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Das Pfanni-Gelände am Ostbahnhof

Vom Knödel zur Kultur

Das Gelände hinter dem Ostbahnhof, auf dem momentan das Werksviertel entsteht, hat in seiner Geschichte mehrere Umnutzungen erfahren. Einst unter anderem von der ehemaligen Knödelfabrik Pfanni verwendet, erfuhr es in den 1990er und 2000er Jahren eine Verwandlung zum Kunstpark Ost und danach zur Kultfabrik, einer der europaweit größten Partymeilen. Mittlerweile beheimatet es neue Kulturangebote, Hotels und Unternehmen.

Das Gelände hinter dem Ostbahnhof hat oft sein Gesicht verändert. Wo seit einigen Jahren das Werksviertel entsteht, befanden sich früher Firmengelände, wie etwa die Optimol Ölwerke, das Bekleidungshaus Konen oder die auf Motorräder spezialisierte Zünder-Apparatebau-Gesellschaft (Zündapp). Am bekanntesten sind aber wohl die Knödel-Produktionshallen, Teil der 1949 von Werner Eckart (1909–1997) gegründeten Pfanni-Werke, die zum größten europäischen Spezialisten für Kartoffelprodukte avancierten. Da industrielle Produktion innerhalb von München weniger erwünscht war, sich die Marktverhältnisse verändert hatten und Energie- und Lohnkosten gestiegen waren, mussten sie in den 1990er Jahren schließen.

1993 wurde das Gelände vom Münchner Kulturunternehmer Wolfgang Nöth (1943–2021) aufgekauft. Dieser war seit den 1980er Jahren in München für seine unkonventionellen Ideen zum Feierleben und seiner Hartnäckigkeit bezüglich bürokratischer Auflagen bekannt. 1996 entstand auf dem Gebiet der ehemaligen Pfanni-Werke der „Kunstpark Ost“, der zeitweise als größtes Clubgelände in Deutschland galt und rund 250.000 Besuchende pro Monat zählte. Neben den etwa 30 Diskotheken und Clubs, die in unterschiedlichen Hallen angesiedelt waren, gab es Restaurants, Spielhallen, Antikmärkte und Ateliers zu günstigen Mieten.

Ab 2003 wurde der ehemalige „Kunstpark Ost“ vom Team der Eventfabrik GmbH als „Kultfabrik“ betrieben, mit reduzierter Größe und Vielfalt, während Nöth in die benachbarten Optimolwerke umzog, auf deren Gelände wiederum mehrere Clubs eröffnet wurden.

Da die Planung des sogenannten Werksviertels immer mehr Form angenommen hatte, mussten Kultfabrik, Optimolwerke und andere kulturelle Einrichtungen 2015 weichen. Zu diesem Zeitpunkt waren auf dem Areal 1.500 Wohnungen, Büroräume für 7.000 Arbeitsplätze, fünf Hotels, Einzelhandelsfläche von 30.000 Quadratmetern, mehrere Musikbühnen und eine neue Philharmonie geplant. Das Gesamtkonzept sollte vom Büro Steidle Architekten erarbeitet werden.

Für Bauherren, Stadt und Architekten war es wichtig, den Kern des alten Pfanniwerks mit Kartoffelsilo, Verpackungshalle oder Kartoffelwaschanlage zu erhalten: „Spannende Architektur, die Verbindung von Vergangenheit und Zukunft sowie eine spektakuläre Mischnutzung von Gebäuden und öffentlichem Raum machen das Werksviertel zu dem Zukunftsviertel für München“, heißt es auf der offiziellen Website des Werksviertels (zit. nach werksviertel münchen). Dort werden neben Büros, Wohnungen und Hotels auch vielzählige Startups, Veranstaltungshallen, Theater, das Container Collective mit Gastronomie, Einzelhandel, Kunst und Kultur sowie viele weitere Einrichtungen beherbergt. Auch wenn das Projekt im Mai 2023 den deutschen Städtepreis gewonnen hat, weisen Gegner:innen der Bauvorhaben darauf hin, dass alteingesessene Kultur vertrieben wurde, um Hotels zu errichten und Raum für Arbeitsplätze privater Medienunternehmen zu schaffen. Viele der Künstler:innen, die Ateliers auf dem Gelände nutzten, werden kaum die Miete aufbringen können, die bereits heute in einigen Bürogebäuden angesetzt wird.

Die kreative Lücke, die entsteht, um das neue Konzept zu verwirklichen, lässt sich nur schwer füllen, da es in München – einer Stadt, die lange Zeit für ihre künstlerische Bohème bekannt war – an bezahlbarem Raum für alternative Nutzungen, wie etwa den damaligen Kunstpark Ost, mangelt.

Bilder

Pfanni-Werke hinter dem Ostbahnhof, 1957/58
Pfanni-Werke hinter dem Ostbahnhof, 1957/58 Das Industriegebiet wurde bereits 1904 geplant, jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg erschlossen – beispielsweise 1949 durch die Pfanni-Werke. Ihre Produktion startete die Marke mit dem Pfanni-Kartoffelpuffer, 1950 folgte der Kartoffelknödel, 1959 das Kartoffelpüree. Jahrzehntelang handelte es sich um die größten Spezialisten für Kartoffelprodukte in Deutschland, wenn nicht sogar weltweit. Bei dem Gebäude auf der Fotografie handelt es sich um den 1955 eingerichteten Verwaltungssitz von Pfanni. Mittlerweile wurde das Gebäude saniert und in WERK1 umbenannt. Quelle: Werk1.Bayern GmbH: Von der Kartoffelfabrik zum digitalen Hochleistungszentrum im Werksviertel, [zul. abgerufen am 14.06.2023].
Pfanni-Werke in der Grafinger Straße 6, um 1960
Pfanni-Werke in der Grafinger Straße 6, um 1960 Bevor Werner Eckart die Pfanni-Werke gründete, hatten Vater Otto und Großvater Johannes Eckart seit 1868 eine Konservenfabrik am Jakobsplatz betrieben. Dort experimentierten sie unter anderem mit getrockneten Kartoffeln als Nahrung für die Front – von den Soldaten wurde das Gericht allerdings wenig geschätzt und als „Drahtverhau“ betitelt (zit. nach Knoll. 2015). Werner Eckart schaffte es, die Kartoffel zu seiner Haupteinnahmequelle zu machen. In den Pfanni-Werken wurden bis zu 1.000 Mitarbeiter:innen beschäftigt.Die Kartoffeln wurden von lokalen Bauern zu den Werken gebracht; bis heute wird der Grundstock für kontrollierten Vertragsanbau von Kartoffeln aus den Regeln für die Pfanni-Kartoffelbauern gebildet. Quelle: Stadtarchiv München, FS-STB-7901  
Der Kunstpark Ost, o. D.
Der Kunstpark Ost, o. D. 1993 verkaufte Otto Eckart das Unternehmen an Knorr-Maizena. 2000 wurde es vom Großkonzern Unilever übernommen. Die letzten Maschinen im Münchner Werk wurden 1996 abgeschaltet, das Gelände wurde allerdings bereits 1993 an Münchner Unternehmer Wolfgang Nöth verkauft, der eine Art Vergnügungsareal gründete: Auf dem ehemaligen Pfanni-Gelände entstand der Kunstpark Ost mit einer Fläche von 80.000 Quadratmetern. Quelle:

Michael Wüst: Teil 1: Die Geschichte des Geländes - vom Kunstpark Ost zur Kultfabrik - Werksviertel-Mitte, [zul. abgerufen am 13.06.2023].

Umfunktionieren von Industrieanlagen, o. D.
Umfunktionieren von Industrieanlagen, o. D. Der Kunstpark Ost war von Anfang an als Zwischennutzung gedacht. Der 1996 geschlossene Vertrag für vier Jahre wurde allerdings aufgrund des Erfolgs verlängert. Hier wurden Rockkonzerte und Techno-Raves abgehalten. Darüber hinaus befanden sich hier Spielhallen, Gastronomie, Antik- und Flohmärkte sowie Kunstateliers. Der Kunstpark Ost war einer der Gründe für die Aufhebung der Sperrzeit, welche sich in München bis zum Ende der 1990er gehalten hatte. Quelle: Werksviertel Mitte: Kunstpark Ost – Die Anfänge (Geländegeschichte Teil 2), 2023, [zul. abgerufen am 14.06.2023].
Flohmarkt im ehemaligen Kunstpark Ost, 1996
Flohmarkt im ehemaligen Kunstpark Ost, 1996 Auf dem Gelände wurden zahlreiche Antik- und Flohmärkte veranstaltet. Es heißt, dass so manche übernächtigte Gestalt hier am frühen Morgen zwischen den Ständen umhergestreift ist. Quelle: Wikimedia Commons Erstellt von: Andreas Bohnenstengel
Rebranding in Kultfabrik, o. D.
Rebranding in Kultfabrik, o. D. 2003 übernahm die Eventfabrik GmbH das Gelände und führte ein Rebranding zur Kultfabrik durch. Man bemühte sich um eine Verbesserungen von Struktur und Hygienestandards, man wollte weg „vom düsteren Schmuddelimage des Party-Ghettos“ (zit. nach Wüst). Nöth zog auf das danebenliegende Gelände der (ehemaligen) Optimolwerke. Bis Anfang 2018 wurden auf beiden Arealen noch unterschiedliche Clubs und Diskotheken betrieben. In dieser Zeit nahmen die Pläne für das Werksviertel immer mehr Form an. Bereits 2001 hatte die Stadt für das Gelände hinter dem Ostbahnhof einen städtebaulichen und landschaftsplanerischen Ideenwettbewerb ins Leben gerufen. Quelle:

Michael Wüst: Teil 1: Die Geschichte des Geländes - vom Kunstpark Ost zur Kultfabrik - Werksviertel-Mitte, [zul. abgerufen am 13.06.2023].

Fortschritt und Tradition – Münchens Zukunftsviertel, o. D.
Fortschritt und Tradition – Münchens Zukunftsviertel, o. D. Der Siegerentwurf, der von Büro 3 Architekten aus München und dem Nürnberger Landschaftsarchitekten Professor Gerd Aufmkolk stammte, wurde vom Referat für Stadtplanung und Bauordnung in einem Strukturplan mit zwei Varianten ausgearbeitet. Von anfänglich 115 Hektar wurde das Gelände auf 39,5 Hektar reduziert. Grundeigentümer Werner Eckart (Sohn von Otto Eckart), beauftragte das Büro Steidle Architekten und die Werkgemeinschaft Freiraum Landschaftsarchitekten mit der Weiterentwicklung des Strukturplans. Als identitätsstiftenden Kern des Geländes sollten die alten Industriehallen beibehalten werden. Außerdem sollten Wohn- und Arbeitsraum sowie neue Arbeitsplätze, unterschiedliche kulturelle Angebote gefördert und eine Begrünung des Gebietes sowie nachhaltige Nutzungsmöglichkeiten geschaffen werden. Quelle: Der Deutscher Städtebaupreis 2023 geht ans das Werksviertel - Werksviertel-Mitte, [zul. abgerufen am 13.06.2023].
Werksviertel – 3D-Modell, o. D.
Werksviertel – 3D-Modell, o. D. Das Werksviertel soll eine Verbindung von Tradition und Innovation, von Arbeit und Wohnen sein sowie Kulturangebote und Naturnähe vereinen. Etwa 1.150 Wohnungen in Blockrandbebauung sind geplant und im Entstehen, 30 % davon soll es in gefördertem Wohnungsbau geben. Die fünf- bis sechsgeschossigen Bauten sollen durch grüne Höfe und die nebenliegenden Gewerbe- und Kerngebiete vom Straßen- und Bahnlärm abgeschottet werden. Die Begrünung soll durch Dachterrassen, Gärten oder Loggien umgesetzt werden. Den Wohnraum sollen Jugendhaus, Kindertagesstätten und eine Grundschule erweitern. Quelle: Werksviertel – werksviertel münchen, [zul. abgerufen am 04.07.2023].
Ausgefallene Naturnähe, um 2017–2023
Ausgefallene Naturnähe, um 2017–2023 Die 2.500 Quadratmeter große Stadtalm ist eines der Projekte, welches sich um mehr Nachhaltigkeit bemüht. Sie befindet sich auf dem Dach des 2016 entstandenen WERK3 und bietet im Rahmen des ökologischen Bildungsprojekts „Almschule“ beispielsweise Schulklassen die Möglichkeit, sich mit den Arbeitsabläufen auf einer Alm vertraut zu machen. Ein Highlight ist die Herde von Walliser Schwarznasenschafen, die seit 2017 ihr festes Heim auf dem Dach hat. Quelle: Schafe im Werksviertel-Mitte – die am häufigsten gestellten Fragen - Werksviertel-Mitte, [zul. abgerufen am 27.06.2023].
Werksviertel, Blick vom Ostbahnhof, 2021
Werksviertel, Blick vom Ostbahnhof, 2021 Die Straßen, die zu unterschiedlichen Teilen der Industriegebäude führten und pragmatisch nach der jeweiligen Funktion benannt wurden, tragen zum Teil bis heute noch ihre Namen. So kann man durch die Speicherstraße oder im Kartoffelgarten flanieren. Die Atelierstraße weist auf die Vergangenheit des Geländes als Kunstpark Ost, der Otto-Eckart-Platz auf den ehemaligen Lebensmittelunternehmer hin. Darüber hinaus werden mittlerweile auch namhafte Personen aus Kunst und Kultur geehrt, darunter der Regisseur August Everding, der Drehbuchautor und Regisseur Helmut Dietl, die Schauspielerin Hanne Hiob oder die Opernsängerin Erika Köth. Quelle: Wikimedia Commons Erstellt von: Sharon Hahn Darlin
Medienbrücke – der Beginn, 2012
Medienbrücke – der Beginn, 2012 Die Medienbrücke war eines der ersten Gebäude des neuen Werkviertels. Das Bürohochhaus wurde nach den Plänen des Architektenbüros Steidle Architekten erbaut und 2012 fertiggestellt. Dass sich hier hauptsächlich Büros von Unternehmen der Medienbranche befinden, ist Grund für die Kritik, die am Werksviertel geäußert wurde. Statt bezahlbarem Wohn- und Arbeitsraum würden Luxushotels gebaut und teure Büroräume vermietet, die gewachsene Struktur von Ateliers und Kultureinrichtungen sei ausgetauscht worden für eine Kultur der StartUps. Obwohl Kunstpark Ost und später Kultfabrik überhaupt erst als Zwischennutzungen geplant waren, hat es nach ihrer Schließung keine Fortführung dieser kulturellen Infrastruktur in ähnlicher Form mehr gegeben. Kritisiert wird, dass die Stadt neben dem neuen Vorzeigeprojekt nicht die bereits in München ansässige Kultur fördern würde. Quelle: Wikimedia Commons Erstellt von: Christian Mürner

Ort

Atelierstraße 1, 81671 München | zugänglich

Metadaten

Betina Pflaum und Alexandra Avrutina, “Das Pfanni-Gelände am Ostbahnhof,” MunichArtToGo, accessed 27. April 2024, https://municharttogo.zikg.eu/items/show/111.