Das Sanktuarium und der Wintergarten Maximilians II.
Ein Studiolo in der Münchner Residenz
König Maximilian II., der 1864 überraschend früh verstorbene Vater Ludwigs II. von Bayern, erbaute sich in der Münchner Residenz ein „Allerheiligstes“ als Rückzugsort für den sakrosankten Herrscher: das sogenannte Sanktuarium. Wie bei den Studioli der italienischen Renaissance kombinierte er diesen Reflexionsraum für den guten Herrscher mit dem Einblick in den Naturraum des Wintergartens.
Maximilian II. war, glaubt man den Charakterisierungen seiner Zeitgenossen, ein grüblerischer und eher entscheidungsschwacher König, der jede seiner Handlungen lange und intensiv überdachte, bevor er sie ausführte. Der angemessene Ort für eine solche politische Gewissenserforschung sollte das Sanktuarium sein, das dem König zugleich einen Schutzraum für das Studium und das Alleinsein mit sich und mit Gott bot. Es lag im zweiten Obergeschoss des Königsbaus, an der südöstlichen Ecke zum Max-Joseph-Platz hin, so versteckt, dass es fast unmöglich ist, Hinweise auf seine Lage und die genaue Raumaufteilung zu erhalten.
Das Sanktuarium war funktional wie formal dem Raumtypus des frühneuzeitlichen Studiolo eng verwandt. Meist befinden sich diese Rückzugsräume an entlegeneren Stellen der Residenzen und ihr Zugang ist strikt durch die Schlüsselgewalt des Herrschers limitiert: So trug Maximilian wie viele seiner frühneuzeitlichen Vorgänger den Schlüssel für das Sanktuarium stets bei sich. Eine versteckte Wendeltreppe von seinem Arbeitszimmer im ersten Stock auf der Nordseite des Königsbaus ermöglichte ihm, seinen Schutzraum ungesehen und so oft er wollte aufzusuchen.
Die Inschrift über der Eingangstür in das eigentliche Sanktuarium „Vivere cum immortalibus“ verwies auf das allein vom König bestimmte Ausstattungsprogramm dieses Meditationsraumes: Als Identifikations- und Legitimationsangebot waren hier Nothelfer für schwere Entscheidungssituationen präsent. 33 Bronzebüsten von uomini famosi und virtuosi vergegenwärtigten in dieser Privat-Walhalla vollplastisch die politischen Ahnen und geistigen Anreger des Königs in bunter zeitlicher Mischung: Homer, Perikles, Plato, Alexander der Große, Marc Aurel, Karl der Große, Alfred der Große, Heinrich I., Otto I., Otto II., Heinrich III., Friedrich Barbarossa, Friedrich II., Rudolf von Habsburg, Ludwig der Heilige, Ludwig der Bayer, Cosimo de’ Medici, Kaiser Maximilian I., Kaiser Karl V., Elisabeth I. von England, Heinrich IV., Kurfürst Max I. von Bayern, Karl XII., Peter der Große, Prinz Eugen, Friedrich der Große, Washington, Schiller, William Pitt, Napoleon, Goethe, Wellington und schließlich der vom König protegierte Hofphilosoph Friedrich Wilhelm Schelling.
Weitere Exempla führten sieben Ölgemälde vor, die Herrschertugenden anhand je eines wichtigen Ereignisses aus der ruhmreichen bayerischen Geschichte versinnbildlichten: zentral die Frömmigkeit, flankierend zu ihrer Rechten Tapferkeit mit Standhaftigkeit, Großmut und Dankbarkeit, zu ihrer Linken Klugheit, Treue und Gerechtigkeit. Jede Szene trug einen Titel, und ein kurzer Text umschrieb die jeweilige Historia, um das richtige Verständnis beim Ratsuchenden sicherzustellen. Doch damit nicht genug: Sämtliche Wände des Sanktuariums waren mit Sinnsprüchen zumeist christlichen Inhalts beschriftet; auch diese hatte der König zur Optimierung ihres Erbauungspotentials höchstselbst ausgesucht. In mehreren dieser Spruchweisheiten wurde die sinnvolle Nutzung der kurzen, hier auf Erden zur Verfügung stehenden Zeit angemahnt, bisweilen poetisch ausformuliert („Brüder, über’m Sternenzelt / richtet Gott, wie wir gerichtet“), zum Teil aber auch nur in sprichwörtlichen Kürzestformeln voll des gesunden Menschenverstands wie: „Ohne Rast und ohne Hast. / Eile mit Weile. / Nimm die Zeit wahr. / Kein Tag ohne Linie. / Der Mensch denkt’s, Gott lenkt’s.“
Das Jüngste Gericht ist ein omnipräsentes Thema in den Ausstattungsprogrammen der glücklosen Könige des 19. Jahrhunderts. So orientierte sich auch das künstlerische „Kleinod“ im Sanktuarium, das zwischen den Ostfenstern angebrachte Gemälde „Apotheose eines guten Königs“ von Wilhelm von Kaulbach aus dem Jahr 1851, in seiner Komposition eindeutig am Aufbau einer Darstellung vom Jüngsten Gericht. Mit dem vor dem Bild platzierten Betschemel für den König wurde das Gemälde zu einer moralisierenden Meditationsvorlage über Glanz und Elend des Herrschertums. Das Vorbild ist unverkennbar Peter Cornelius’ monumentales Altarfresko aus den Jahren 1836–1839 in der Ludwigskirche.
Für das Jüngste Gericht ist die Anordnung der dargestellten Figuren links und rechts von Christus kanonisch: Die Erlösten werden so von den Verdammten in einer klaren Ortszuweisung geschieden. Auf Kaulbachs Bild tritt eine vertikale Gliederung an die Stelle einer horizontalen. Die aufrechtstehenden Tugenden mit ihren emporgehaltenen Flammenschalen bilden sozusagen die Startplattform für die Himmelfahrt des guten Königs. Der „Verzweiflungsgruppe“ der nackten, in michelangelesken Verrenkungen sich windenden Verdammten bei Cornelius rechts unten korrespondiert die in düsteren Farben gehaltene „Wutgruppe“ der machtlos gewordenen Laster im Vordergrund von Kaulbachs Bild. Der Emporfahrende selbst ersetzt – auch in seiner ritterlichen „Berufskleidung“ – den Erzengel Michael, den Vollstrecker des Jüngsten Gerichts.
Bei Kaulbach bilden diejenigen Ritter, Fürsten und Könige, die der Meditierende eben noch als Bronzebüsten in seinem Sanktuarium hatte stehen sehen, das kollegiale Empfangskommitee für den in den Himmel enthobenen guten Herrscher. Hier bedarf es keiner teuflischen Schergen mehr, um die Sünder niederzustrecken – die Tugend des Königs allein vollbringt diesen Akt der Erniedrigung des Bösen, während die Personifikationen der Tugenden triumphierend ihre Flammen emporrecken. Dieser gute Fürst braucht keine Interzessoren, die sich bei Christus für sein Seelenheil verwenden, wie es Maria und Johannes oder das Apostelkollegium in traditionellen Jüngstes-Gericht-Darstellungen tun. Ihm wird die Generalabsolution ohne Gericht zuteil, denn er hat in seiner weltlichen Herrschaft die göttlichen Gesetze stets befolgt und so sein Königreich zum Abbild der göttlichen Ordnung gemacht.
Das Gemälde zeigt ihm das, was notwendig eintreten muss, wenn er sich schon hier auf Erden sein Amt nur hinlänglich schwermacht und seiner königlichen Verantwortung bis an die Grenzen der seelischen und physischen Belastbarkeit gerecht wird. Hilfe und Stütze in dieser schweren Aufgabe versprechen ihm die Tugenden und die aufmerksame Lektüre der an die Wände seines Allerheiligsten gemalten und geschriebenen Instruktionen: Wer die Exempla seiner Vorbilder beherzigt, den heißen die vorbildlichsten seiner Amtsvorgänger wie Karl der Große und Ludwig der Heilige schließlich in den höchsten Sphären willkommen.
Typisch für die Studioli der Renaissance war die Möglichkeit des Ausblicks aus diesen traditionell eher beengten und lichtlosen Räumen, die eine Innenwelt symbolisierten, in die Landschaft oder in einen Giardino segreto. So auch hier: Aus seinem Sanktuarium blickte Maximilian auf die Dachterrasse der Residenz mit ihren Orangenbäumen. Ein weiteres Fenster gab den Blick von oben auf das Glasdach des Wintergartens zwischen Königsbau und Residenztheater frei. Und wenn der Herrscher, erbaut von Sinnsprüchen, Lektüre und Kunstbetrachtung, die exponierte Lage des zweiten Obergeschosses verließ und die geheime Wendeltreppe hinabstieg, konnte er direkt in die künstliche Natur seines Wintergartens eintreten.