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Der Wintergarten Ludwigs II.

Ein Zaubergarten über den Dächern von München

Wie später Schloss Neuschwanstein über dem Alpsee schwebte der Wintergarten Ludwigs II. auf dem Bau der Residenz über der bayerischen Hauptstadt. Der menschenscheue König ließ sich hier ein Refugium errichten, das ihm in einer orientalischen Traumwelt Schutz vor der anbrandenden Moderne bot.

Der Münchner Wintergarten Ludwigs II. (1845–1886) war im vollen Wortsinn „abgehoben“, da er als Eisen-Glas-Konstruktion in den Jahren 1869–1871 auf den Nordflügel der Residenz am Hofgarten aufgesattelt wurde. Er diente dem König als Rückzugsort nach oben aus der verhassten Hofwelt mit ihren Empfängen, Diners und sonstigen öffentlichen Verpflichtungen. In Ludwigs Wintergarten wurde der überwältigte Besucher mit einem maurischen Kiosk, einem orientalischen Zelt, mit exotischen Pflanzen und Vögeln und einem mit Lohengrin-Kahn befahrbaren künstlichen See konfrontiert.

Dem Wintergarten war ein Bibliothekszimmer vorgelagert, das die Vorab-Lektüre über diejenigen paradiesischen Weltgegenden ermöglichte, in die der Besucher erst nach einer solchen historischen und literarischen Vorbereitung adäquat eingestimmt eintreten durfte. Man betrat das ca. 80 m lange Glasgebilde dann durch einen dunklen und undurchdringlichen, mit Laub verkleideten Gang, der den Betrachter ganz plötzlich entließ und ihn dem Überwältigungseffekt durch eine exotische Scheinwelt auslieferte, in die er sich schlagartig entrückt sah.

Die Schriftstellerin Luise von Kobell (1827–1901) beschrieb diesen „sinnenberückenden“ Eindruck, eine Parallelwelt zu betreten, nach ihrem Besuch des Wintergartens Anfang der 1870er Jahre: „Es lag eine so seltsame Pracht in diesem Garten, daß es mir beim Austritte vorkam, als sei ich in einem Wunderlande gewesen.“ Auch ein anonymer Berichterstatter zeigte sich 1886 in den „Illustrierten Monatsheften“ von dieser utopischen Inszenierung überwältigt: „Das Ganze wirkt wie ein Bild aus einer phantastischen Traumwelt auf den Eintretenden. Aus dem Hintergrund leuchtet eine prachtvoll perspektivisch gemalte Landschaft aus dem Himalaya entgegen, die sogar, wenn man ihr ganz nahe tritt, von ihrer Täuschung nichts verliert.“

In einem Wintergarten mit seiner hochmodernen Eisen-Glas-Konstruktion lässt sich die (künstliche) Natur in idealer Weise beherrschen: Sie ist hier ihrem Schöpfer vollständig unterworfen, er verfügt über eine nach seinen geheimsten Wünschen konzipierte artifizielle Welt. Autonom gebietet er über Raum und Zeit. Denn sein imaginäres Königreich unter Glas setzt die Naturgesetze qua Befehl außer Kraft. Dass die für den künstlichen See eingebaute Kupferwanne mit den Maßen 21,7 x 12,4 x 12,4 m undicht war und die im Stock darunter untergebrachten Bediensteten zwang, häufig mit aufgespanntem Regenschirm zu schlafen, kümmerte den über sein künstliches Paradies absolutistisch herrschenden König wenig.

Die Jahreszeiten und damit die Blühzeiten der Pflanzen konnten hier ebenso umgekehrt werden, wie Ludwig in der Grotte in höchst unwahrscheinlicher Höhenlage die Tageszeiten invertierte und die Nacht mit illusionistischen elektrischen Beleuchtungseffekten zum Tag machte. In diesen selbstgeschaffenen Räumen darf er endlich absoluter Herrscher sein. Kunstauftrag und Herrschaftsakt fallen hier in eins, denn der Monarch kann mit einem Federstrich geografische Veränderungen vornehmen und sich mit Hilfe der Kunst in die entferntesten Weltregionen versetzen lassen – im Münchner Wintergarten gar bis an den Fuß des Himalaya als exotischer Alternative zu den heimischen Alpen.

Stilzitate und Kulissenwechsel werden hier zu Mitteln der Machtdemonstration: Der Orient war für Ludwig ein aus den unterschiedlichsten exotischen Versatzstücken zusammengesetzter, synästhetischer Sehnsuchtsort, der kaum unterscheidbar die Türkei, das maurische Spanien mit der Alhambra in Granada, Marokko, aber auch ein imaginäres Indien umfasste – in der Sonderform des Tals von Kaschmir oder des Himalaya wie im Wintergarten.

Bilder

Blick auf den westlichen Teil des Wintergartens mit dem Himalaya-Bühnenprospekt, nach 1871
Blick auf den westlichen Teil des Wintergartens mit dem Himalaya-Bühnenprospekt, nach 1871 In der Neuen freien Volkszeitung vom 1. April 1879 hieß es zur „fabelhaften Pracht des neuen Wintergartens“ (und es dürfte sich hierbei kaum um einen Aprilscherz gehandelt haben): „jenes Wintergartens, der allein in München ein Rätsel ist, der seine eigene Sonne, seinen eigenen Mond besitzt, deren süßes dämmeriges Licht, wie es der Regenbogen spendet, einen kleinen See beleuchtet, an dessen Ufer der Schwan des Nordens träumend sein Gefieder putzt, während unter ihm im Grün versteckt, die Goldfische aus dem fernen Morgenlande sich scherzend verfolgen und die Vögel aller Länder auf den Bäumen zwitschern.“ Quelle: Zentralinstitut für Kunstgeschichte, Photothek/Archiv, Th058712
Nordwestflügel der Münchner Residenz mit dem Wintergarten von König Ludwig II.
Nordwestflügel der Münchner Residenz mit dem Wintergarten von König Ludwig II. Der Blick vom Odeonsplatz auf die Residenz zeigt Ludwigs Wintergarten 1887 in seiner Adlerhorstposition ein Jahr nach dem Tod des Königs. Quelle: Stadtarchiv München, C1886134 Erstellt von: Carl Steinicken
Der Festsaalbau der Residenz mit Wintergarten, nach 1870
Der Festsaalbau der Residenz mit Wintergarten, nach 1870 Der Architekt Eduard Riedel (1813–1885), beraten von August von Voit (1801–1870) und Gottfried Neureuther (1811–1887), sattelte den Wintergarten zwischen 1869 und 1871 auf den westlichen Festsaalbau der Münchner Residenz auf. Quelle: Zentralinstitut für Kunstgeschichte, Photothek, ZI-0918-07-00-099790 Erstellt von: Joseph Albert
Der Wintergarten Maximilians II. nach dem Entwurf von Franz Jakob Kreuter, 1851–1854, Aufnahme um 1860
Der Wintergarten Maximilians II. nach dem Entwurf von Franz Jakob Kreuter, 1851–1854, Aufnahme um 1860 Bereits den Wintergarten von Ludwigs Vater, Maximilian II., an der Südostecke der Residenz, auf dem Verbindungstrakt zum Nationaltheater am Max-Josef-Platz, in dem Ludwig II. in den 1860er Jahren Feste veranstaltete, hatte Luise von Kobell (1827–1901) mit einem „Feenhain“ verglichen: Das von innen beleuchtete Glasgehäuse bot sich den draußen im Abenddunkel vorbeiflanierenden Münchner Untertanen in einer veritablen „Lichtsymphonie“ dar. Quelle: Zentralinstitut für Kunstgeschichte, Photothek/Archiv, Th58395 / © Bildarchiv Foto Marburg Erstellt von: Carl Teufel, Benno Filser
Titelblatt von Adolf Friedrich Graf von Schacks zweibändigem Werk "Poesie und Kunst der Araber in Spanien und Sicilien", Ausgabe 1865
Titelblatt von Adolf Friedrich Graf von Schacks zweibändigem Werk "Poesie und Kunst der Araber in Spanien und Sicilien", Ausgabe 1865 Am 21. März 1869 – im Umfeld der Planungen für seinen Münchner Wintergarten und den dortigen orientalischen Kiosk – gab Ludwig gegenüber Lorenz von Düfflipp diese literarische Quelle des seit 1855 in München beheimateten Gründers der nach ihm benannten Schack-Galerie preis, die ihm als Katalysator für seine orientalisierenden Imaginationen gedient hatte. Quelle: Adolf Friedrich Graf von Schack, Poesie und Kunst der Araber in Spanien und Sicilien, Berlin 1865.
Grundriss des von Gartenbaudirektor Carl von Effner (1831–1884) ausgeführten Wintergartens, 1870/71
Grundriss des von Gartenbaudirektor Carl von Effner (1831–1884) ausgeführten Wintergartens, 1870/71 Der Weg, der sich durch Ludwigs Wintergarten schlängelte, wies mehrere Kehren auf, mit deren Hilfe den Besuchern durch die Richtungswechsel die Orientierung genommen werden sollte, damit sie sich ganz auf diese von der Außenwelt abgekoppelten utopischen Räume einlassen konnten. Auch sollte das Wunderland durch diese Wegeführung größer erscheinen, als es tatsächlich war. Quelle: Wilhelm Zimmermann: Die königlichen Gärten Oberbayerns in kunstgeschichtlicher und kritischer Beleuchtung, hg. u. bearb. v. J. Trip und H. Schall, Berlin 1903.
Blick auf den östlichen Teil des Wintergartens mit dem maurischen Kiosk und der Grotte im Hintergrund, um 1880
Blick auf den östlichen Teil des Wintergartens mit dem maurischen Kiosk und der Grotte im Hintergrund, um 1880 Bereits auf der Weltausstellung 1867 in Paris, die mit ihren exotischen Versatzstücken und orientalisierenden Miniaturwelten zweifellos das größte Attraktionspotential im Besichtigungsparcours der Capitale für Ludwig bereithielt, hatte er versucht, diesen Kiosk für die Ausstattung seines Wintergartens zu erwerben. Quelle: Wikimedia Commons Erstellt von: Joseph Albert
Christian Jank, Entwurf für den Rückprospekt im Wintergarten mit einem Mogulpalast, 1869
Christian Jank, Entwurf für den Rückprospekt im Wintergarten mit einem Mogulpalast, 1869 Die Himalaya-Kulisse sollte je nach Belieben und Stimmung des Königs durch eine Version mit einer „indischen“ Palastanlage am Wasser ersetzt werden können, die den künstlichen See im Wintergarten illusionistisch verlängert hätte. Jank als Hoftheatermaler war ein Profi für solche szenischen Bühnenprospekte. Quelle: Georg Baumgartner: Königliche Träume. Ludwig II. und seine Bauten, München 1981, S. 59, Abb. 68.
Plakat von Célestin Nanteuil zur Uraufführung von "Lalla Roukh" an der Opéra-Comique in Paris, 1862
Plakat von Célestin Nanteuil zur Uraufführung von "Lalla Roukh" an der Opéra-Comique in Paris, 1862 Aufführungen der in einem Phantasie-Kaschmir spielenden Oper „Lalla Roukh“ von Félicien David (1810–1876) wohnte Ludwig schon als Kronprinz im Münchner Nationaltheater erstmals am 15. März und dann erneut am 31. Mai 1863, am 4. August 1864 und noch einmal am 3. Mai 1869 bei. Quelle: Wikimedia Commons
Entwurf von Jean-Pierre Moynet (1819–1876) für das Bühnenbild zum 2. Akt von „Lalla Roukh“
Entwurf von Jean-Pierre Moynet (1819–1876) für das Bühnenbild zum 2. Akt von „Lalla Roukh“ Dieses Erlebnis und vor allem der Eindruck der Bühnenbilder – hier eines der Pariser Uraufführung vom 12. Mai 1862 – fanden ihren Niederschlag in der Gestaltung und in den illusionistischen Prospekten seines Wintergartens. Quelle: gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France
Der Wintergarten mit dem Himalaya-Panorama
Der Wintergarten mit dem Himalaya-Panorama Julius Langes (1817–1878) Gemälde von 1871 dokumentiert die berauschenden Farbeffekte im Zeitalter der Schwarz-Weiß-Fotografie. Quelle: Hans Gerhard Evers: Ludwig II. von Bayern. Theaterfürst, König, Bauherr, München 1986, Taf. 79.
Blick vom Kaiserhof der Residenz auf den im Abbruch befindlichen Wintergarten
Blick vom Kaiserhof der Residenz auf den im Abbruch befindlichen Wintergarten Die Anlage wurde 1897 verkauft und dann abgetragen – und zwar just von ihrer Nürnberger Herstellerfirma, der Maschinenbau-Gesellschaft Klett & Comp. (später MAN). Quelle: Stadtarchiv München, FS-HB-XX-R-014

Ort

Ecke Odeonsplatz / Hofgarten, Festsaalbau der Münchner Residenz, 80539 München | Nicht erhalten

Metadaten

Christine Tauber, “Der Wintergarten Ludwigs II.,” MunichArtToGo, zuletzt zugegriffen am 21. November 2024, https://municharttogo.zikg.eu/items/show/23.