Eingeordnet unter Jugendstil

Die Elf Scharfrichter

„Freie Szene“ im Hinterhof

Im Hinterhof der bürgerlichen Gaststätte Zum Goldenen Hirschen in der Türkenstraße 28, inmitten des Künstlerviertels der Schwabinger Bohème, eröffneten am 13. April 1901 Die Elf Scharfrichter Münchens erstes Kabarett.

Das Kollektiv aus Intellektuellen sowie Vertreter:innen der Kunst- und Kulturszene hatte sich zusammengefunden, um die noch junge, aus Frankreich stammende Gattung Kabarett in der bayerischen Hauptstadt zu etablieren. Die „intimen“ Aufführungen der Elf Scharfrichter fanden im Erdgeschoß eines einstöckigen Seitenanbaus, einem ehemaligen Fechtboden, statt, der durch erhebliche Umbaumaßnahmen und eine feinsinnige Ausstattung mit zeitgenössischen Kunstwerken und grotesken Objekten wie den an den Wänden befestigten Köpfen der „Scharfrichter“, den Gipsabgüssen des Bildhauers Wilhelm Hüsgen, in ein atmosphärisches „Künstlerbrettl“ verwandelt worden war.

Verschiedene erhaltene Grundrisse und ein feuerpolizeilicher Saalplan geben Auskunft über die räumliche Gestaltung der Anlage. Zudem sind einige wenige Fotos des Saals sowie Grafiken des Scharfrichters Willy Oertel überliefert, die einen Eindruck der Bühne und des Zuschauerraums vermitteln. Gespielt wurde auf einer knapp fünf Meter breiten Bühne, die auf der linken Seite von einer Treppe, dem Platz des Conférenciers Marc Henry, begrenzt war. Unter der Bühne befand sich ein kleiner Orchestergraben, der durch die aufwändige Absenkung des Bodenniveaus eingerichtet worden war.

Aufgrund der sehr beengten Verhältnisse im Zuschauerraum mit seinen gerade mal 12,80 x 5,20 Metern wurde die Anzahl der Plätze vom Magistrat im September 1902 auf 84 festgelegt, nachdem das Theater in der Anfangszeit häufig aus allen Nähten geplatzt war.

Als Experimentierbühne, die sich der Ablehnung von Institutionen, dem Kampf für die künstlerische Freiheit gegen gesetzliche Zensur und der Suche nach neuen Kunstformen verschrieben hatte, reihte sich das Künstlerensemble in die Reformbestrebungen des Jugendstils ein. Seine kritische Haltung spiegelt sich u. a. im Namen des Ensembles, das seine Vorstellungen als „Exekutionen“ titulierte, und in frechen Aktionen wie dem rituellen Aushang der behördlichen Zensurbriefe – die Zensurbehörde kontrollierte zu dieser Zeit alle Vorstellungen öffentlicher Theater – an einem „Schandpfahl“ im Zuschauerraum. Für die Bühne wählten die Scharfrichter bedrohlich wirkende Pseudonyme wie Frigidius Strang (der Rechtsanwalt Robert Kothe) oder Dionysius Tod (der Autor Leo Greiner). Die elf Gründungsväter, unter ihnen der spätere Leiter der Münchner Kammerspiele Otto Falckenberg und das wohl bis heute bekannteste Mitglied Frank Wedekind, wurden von sog. Henkersknechten unterstützt: Musikern, Schauspielerinnen und Schauspielern sowie Sängern und Sängerinnen. Als weiblicher Star der Scharfrichter ging die französisch-lothringische Sängerin Marya Delvard in die Kabarettgeschichte ein.

Plakate und Programmhefte entwarfen angesehene Künstler und Illustratoren, wie Bruno Paul und Thomas Theodor Heine. Das Plakat- und Programmheftmotiv von Heine mit der markanten Silhouette von Marya Delvard ist ein signifikantes Beispiel für die Plakatkunst im Jugendstil. Die flächige, wenig ornamentale und damit ein hohes Maß an Fernwirkung versprechende, zugleich grotesk-humorvolle Bildsprache war auch für die von Albert Langen in München herausgegebene Satire-Zeitschrift Simplicissimus prägend, für die Heine als Illustrator tätig war.

Die Darbietungen des Kabaretts bestanden aus kurzen gesprochenen und gesungenen Nummern, die zu großen Teilen von den Autoren und Komponisten des Theaters stammten. Dabei ist eine gewisse Vorliebe für groteske Inhalte zu beobachten, wobei auch vielfach harmlos-komische, satirische, aber auch ganz ernsthafte Töne angeschlagen wurden.

In den drei kurzen Jahren ihres Bestehens prägten Die Elf Scharfrichter die Münchner Avantgarde der Jahrhundertwende. Bereits im Herbst 1904 musste der Spielbetrieb aufgrund des nachlassenden Engagements der Mitwirkenden, finanzieller Schwierigkeiten sowie restriktiver behördlicher Maßnahmen eingestellt werden.

Bilder

Die bürgerliche Gaststätte "Zum Goldenen Hirschen" in der Türkenstraße 28, um 1903.
Die bürgerliche Gaststätte "Zum Goldenen Hirschen" in der Türkenstraße 28, um 1903. Auf der Fassade im ersten Stock plakatierte das Kabarett. Quelle: Bühne und Brettl, illustrirte Zeitschrift für Theater und Kunst, 3. Jg., Nr. 4, Berlin 1903, S. 8 (Digitalisat der Universitäts- und Landesbibliothek Münster).
Der Eingang zu den Elf Scharfrichtern im Hinterhof der Türkenstraße 28, um 1903
Der Eingang zu den Elf Scharfrichtern im Hinterhof der Türkenstraße 28, um 1903 Quelle: Bühne und Brettl, illustrirte Zeitschrift für Theater und Kunst, 3. Jg., Nr. 4, Berlin 1903, S. 9 (Digitalisat der Universitäts- und Landesbibliothek Münster).
Grundriss der Türkenstraße 28
Grundriss der Türkenstraße 28 Quelle: LBK München, Bestandsakt Türkenstr. 28, Akte 1
Die Bühne der Elf Scharfrichter, Stich von Willy Oertel, um 1904
Die Bühne der Elf Scharfrichter, Stich von Willy Oertel, um 1904 Quelle: Judith Kemp: "Ein winzig Bild vom großen Leben". Zur Kulturgeschichte von Münchens erstem Kabarett Die Elf Scharfrichter (1901–1904), München 2017, S. 120.
Das Heim der Elf Scharfrichter, um 1902
Das Heim der Elf Scharfrichter, um 1902 Quelle: Das moderne Brettl, 1. Jg, Nr. 7, Berlin 1902, S. 98.
Einrichtungsplan des "Scharfrichter"-Theaters, September 1902
Einrichtungsplan des "Scharfrichter"-Theaters, September 1902 Quelle: Staatsarchiv München, Zensurakten, Pol. Dir. 2057/1-3
Die Mitwirkenden der Elf Scharfrichter im eigenen Zuschauerraum, um 1903
Die Mitwirkenden der Elf Scharfrichter im eigenen Zuschauerraum, um 1903 Quelle: Bühne und Brettl, illustrirte Zeitschrift für Theater und Kunst, 3. Jg., Nr. 4, Berlin 1903, S. 7 (Digitalisat der Universitäts- und Landesbibliothek Münster).
„Die gemüthliche Ecke mit dem Schandpfahl“, Stich von Willy Oertel, um 1903
„Die gemüthliche Ecke mit dem Schandpfahl“, Stich von Willy Oertel, um 1903 Quelle: Bühne und Brettl, illustrirte Zeitschrift für Theater und Kunst, 3. Jg., Nr. 4, Berlin 1903, S. 9 (Digitalisat der Universitäts- und Landesbibliothek Münster)
Thomas Theodor Heines Titelbild für das 10. Programmheft, das Marya Delvard vor elf Teufelsmasken zeigt, wurde zu einer Ikone der Münchner Moderne.
Thomas Theodor Heines Titelbild für das 10. Programmheft, das Marya Delvard vor elf Teufelsmasken zeigt, wurde zu einer Ikone der Münchner Moderne. Es diente auch als Titel der Elf-Scharfrichter-Nummer der Zeitschrift "Bühne und Brettl". Quelle: Bühne und Brettl, illustrirte Zeitschrift für Theater und Kunst, 3. Jg., Nr. 4, Berlin 1903, Titelblatt (Digitalisat der Universitäts- und Landesbibliothek Münster)

Ort

Türkenstraße 28, 80799 München | zugänglich, doch ursprünglicher Zustand aufgrund von Kriegsschaden nicht erhalten

Metadaten

Birgit Kadatz-Kuhn, Judith Kemp und Petra Kraus, “Die Elf Scharfrichter,” MunichArtToGo, zuletzt zugegriffen am 8. Oktober 2024, https://municharttogo.zikg.eu/items/show/175.