Bernardo Bellottos Gemälde „Ansicht der Stadt München von der Ostseite“
Der Standpunkt eines berühmten Städtebetrachters
An einer Stelle im Bereich des heutigen Gasteig-Geländes an der Rosenheimer Straße stand Bernardo Bellotto, gen. Canaletto (1721–1780), im Jahr 1761, wahrscheinlich zusätzlich erhöht auf einem Gerüst, als er die vorbereitenden Zeichnungen zu einer der bekanntesten Stadtansichten Münchens ausführte. Der Blick über die Isar hinweg auf das Stadtpanorama war seit Schedels Weltchronik, 1493, Standard: Auf der Salzstraße von Südosten herkommend bot sich gerade auf Höhe des Gasteigs Gelegenheit, die Stadt in der Gesamtansicht zu erfassen.
Das Originalgemälde befindet sich heute nur knapp zwei Kilometer Fußweg vom Gasteigberg entfernt im Residenzmuseum, genauer: in den Kurfürstenzimmern über dem Antiquarium. Es wurde zusammen mit zwei Veduten vom Nymphenburger Schloss in enger Absprache mit Max III. Joseph (1727–1777) für dieses Wohnappartement geschaffen. Hintergrund des Auftrags an den damaligen Dresdner Hofmaler war der Aufenthalt der Schwester des bayerischen Kurfürsten, Maria Antonia (1724–1780), und ihres Mannes, des sächsischen Thronfolgers Friedrich Christian (1722–1763), von 1759 bis 1762 in Nymphenburg. An seinem Bestimmungsort im ersten Vorzimmer bildete das Gemälde einen festen Baustein im wohldurchdachten Bildprogramm der Raumabfolge. Aufgrund strenger Zutrittsregeln blieb es allerdings nur einem eng definierten Personenkreis vorbehalten, sich mit dem Gemäldebetrachten das Warten zu verkürzen. Ein Kupferstich von Franz Xaver Jungwierth (1720–1790) machte das Bild bald auch einem breiteren Publikum vertraut.
Der Vergleich mit Franz Hanfstaengls (1804–1877) um 1855 vom selben Standpunkt aus aufgenommener Fotografie offenbart ein wichtiges Merkmal von Bellottos durchgestaltetem Bildaufbau: „Wie ein Kulissenschieber“ (zit. nach Schumacher 2016, S. 16) hat er die Gebäude im Vordergrund aus dem Blickfeld geräumt. Bei der Bildkomposition soll er sich unterschiedlich großer Modelle der Camera obscura bedient haben. Dieses bereits in der venezianischen Werkstatt seines Onkels Antonio Canal, gen. Canaletto (1697–1758), perfektionierte Verfahren ermöglichte es ihm, das Stadtgefüge mithilfe von Gesamt- und Teilansichten präzise zu rekonstruieren.
Der topografisch exakten Wiedergabe des Stadtpanoramas stehen lebendige Genreszenen gegenüber, die das Alltagsgeschehen in der kurfürstlichen Residenzstadt vermitteln sollen. Der Schwerpunkt liegt einerseits auf Symbolen der Prosperität: im Hintergrund der historisch gewachsenen Stadt; im Mittelgrund der Erneuerung der Isarbrücke, dem Flusslauf mit Holzfrachter und am Ufer trocknenden Textilbahnen der 1747 gegründeten Cottonmanufaktur im Lehel. Andererseits rückte der Maler Personen prominent in den Vordergrund, die auf Unterstützung und Pflege im damals auf dem Gasteigberg befindlichen Armen- und Siechenhaus angewiesen waren. Der stets für das tägliche Leben im Sichtfeld seiner Veduten empfängliche Städtebetrachter verfolgte ein bildprogrammatisches Ziel: Mit diesem kontrastreichen Blick vom (Stadt-)Rand der Gesellschaft aus fächerte er die Verantwortlichkeiten des aufklärerisch regierenden Kurfürsten gegenüber seinen Untertanen auf.