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Die Regina-Lichtspiele

Der Film „Nathan der Weise“ (1922) als frühes Opfer des Nationalsozialismus

Am 9. Februar 1923 kündigten die Regina-Lichtspiele in der Kaufingerstraße die Münchner Uraufführung des Monumental-Stummfilms „Nathan der Weise“ an. Die in München gedrehte Filmadaption von Gotthold Ephraim Lessings flammendem Appell an religiöse Toleranz und Menschlichkeit war nach seiner Berliner Uraufführung wenige Wochen zuvor zu einem regelrechten Kassenschlager geworden. Dieser Beitrag skizziert die Münchner Rezeptionsgeschichte des Films vor dem Hintergrund der erstarkenden nationalsozialistischen Partei in der „Hauptstadt der Bewegung“ der frühen 1920er Jahre.

Antisemitismus war in der bayerischen Hauptstadt als öffentliche Haltung gesellschaftsfähig, lange bevor er zum zentralen Topos einer marktschreierischen NS-Propaganda wurde. In bestimmten Kreisen war der Judenhass ein identitätsstiftendes Element, ein verbindendes Merkmal. Wie der Münchner Historiker Andreas Heusler zusammenfasst, „bot das ‚Milieu München‘ geradezu ideale Entstehungs- und Wachstumsbedingungen für die menschenverachtende Ideologie des Nationalsozialismus“ (Heusler 2025). Es war dieses Milieu, welches die Münchner Rezeptionsgeschichte des Monumental-Stummfilms „Nathan der Weise“ maßgeblich bestimmte.

Wir setzen den Beginn dieser Geschichte ins Jahr 1918 mit der Eröffnung der Regina-Lichtspiele in der Kaufingerstraße in München. Zu diesem Anlass ließ Wilhelm Sensburg, der Kinopionier und Betreiber des neuen Lichtspielhauses verkünden, dass „nur Erstklassiges geboten“ würde, weshalb es „noch nicht an der Zeit sein [wird], Münchner Produkte des Filmmarktes zu bringen, weil dieser […] noch in den Kinderschuhen stecke“ (Lerch-Stumpf 2008, S. 91).

Bis spätestens Anfang 1923 scheint er sein Urteil geändert zu haben: Am 9. Februar setzte er „Nathan der Weise“, eine Monumentalproduktion des Bavaria-Filmhauses – einer Tochterfirma des noch jungen Filmkonzerns Münchner Lichtspielkunst, genannt EMELKA –, auf den Spielplan der Regina-Lichtspiele. Die filmische Adaption von Gottfried Lessings flammendem Appell an religiöse Toleranz und Menschlichkeit war wenige Wochen zuvor in Berlin uraufgeführt worden. Im Deutschen Reich und im Ausland erreichte sie bald solch überwältigende Besucherzahlen, dass die Aktien der EMELKA „an die Spitze aller deutschen Film-Aktien stieg[en]“ (Brenner 2019, S. 258).

Doch sollte weder Kinobetreiber Sensburg eine Scheibe dieses Erfolgs für sich abschneiden können noch sollte das Münchner Publikum die Gelegenheit bekommen, das äußerst gelungene Beispiel der heimischen Lichtspielkunst zu feiern. Am Nachmittag des 9. Februar trafen erste Drohbriefe ein, am Abend ein Anruf, in dem Sensburg gedroht wurde, sein Kino werde „am nächsten Abend kurz und klein“ (Drössler 2020, o.S.) geschlagen, falls er den Film nicht aus dem Programm nähme.

Der um seinen teuer ausgestatteten Kino-Palast fürchtende Besitzer gab nach, denn er wusste, aus welcher Ecke die Drohungen kamen. Schließlich war der Film schon im September des Vorjahres während des Begutachtungsverfahrens an der Filmprüfstelle München einer antisemitischen Hetze ausgesetzt worden. Begründet wurde diese mit der positiven Darstellung der Hauptfigur Nathan als „den weitaus besten Menschen“ (Drössler 2020, o.S.) gegenüber den christlichen und muslimischen Protagonisten. „Besonders zur Jetztzeit, wo die Meinungen darüber besonders in der breiten Masse ganz entgegengesetzter Art sind, [müsste dies] sowohl den katholischen als auch den protestantischen Volksteil in seinem religiösen Gefühl verletzen“, hieß es weiter im Protokoll der Filmprüfstellensitzung. Daher erscheine „der Bildstreifen außerordentlich geeignet, die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu gefährden“ (Drössler 2020, o.S.).

Diese Kampagne richtete sich aber nicht nur gegen den Inhalt des Films, sondern auch gegen die vielen jüdischen Mitwirkenden, darunter den Produzenten Erich Wagowski, den Regisseur Manfred Noa, sowie zwei meiner Vorfahren: den Mitbegründer und Aufsichtsratsvorsitzenden des EMELKA-Konzerns Wilhelm Rosenthal und dessen Sohn Emil Emanuel Kurt Rosenthal (Künstlername Kurt Rosen), den Aufnahmeleiter des Films.

Trotz der Bedenken waren die Filmprüfstelle München sowie Ende 1922 die Berliner Filmoberprüfstelle zu dem Ergebnis gekommen, dass der Film zuzulassen sei. Denn sollten antisemitische Aktionen gegen ihn unternommen werden, dann aus Gründen „die von außen willkürlich in den Inhalt des Films hineingetragen werden. […] Die Abstellung dieser Gefährdung [kann] nicht durch die Versagungsgründe des Lichtspielgesetzes, sondern lediglich durch das Einschreiten der Polizeiverwaltungen erfolgen“ (Drössler 2020, o.S.).

Als Sensburg den Film aus seinem Programm strich, hatte er nicht einmal versucht, ein solches Einschreiten zu bewirken. „Es war bezeichnend für die Zeit, dass er [Sensburg] sich gar nicht erst an die Münchner Polizei um Hilfe wandte, von der man wusste, dass sie nationalsozialistisch durchsetzt war“, stellt Historiker Michael Brenner fest (Brenner 2019, S. 259). Wilhelm Sensburg sollte allerdings 1931 seine positive Einstellung gegenüber dem Nationalsozialismus unter Beweis stellen, als er das Münchner Luitpold-Filmtheater übernahm und es „ausdrücklich in den Dienst der Wahlkampf-Propaganda [stellte]. Während des Dritten Reiches blieb es eine zentrale Abspielstätte für NS-Vorzugsfilme, zuletzt noch für ‚Jud Süß‘ […]“ (Stankiewitz 2019, o.S.). Nach dem Krieg war Sensburg weiter im Filmgeschäft tätig und beteiligte sich zum Beispiel an der Produktion „In München steht ein Hofbräuhaus“ des Jahres 1951.

Bilder

Außenansicht der Regina-Lichtspiele
Außenansicht der Regina-Lichtspiele Die „Regina-Lichtspiele“ wurden am 23. Dezember 1918 von Wilhelm Sensburg im Erdgeschoß eines Wohnhauses eröffnet. Sensburg, einer der deutschen Kinopioniere, blieb der Betreiber bis 1928, dann übernahm Betty Pirtsch das Kino, das bis 1931 existierte. Das Foto zeigt die zur Liebfrauenstraße gewandte Front des Gebäudes. Quelle: Monika Lerch-Stumpf (Hg.): Neue Paradiese für Kinosüchtige. Münchner Kinogeschichte 1945 bis 2007, München 2008, S. 89.
Zuschauerraum der „Regina-Lichtspiele“
Zuschauerraum der „Regina-Lichtspiele“ Ein damaliger Rezensent zur Eröffnung: „Der hohe Raum ist in Hellblau, Weiß mit Gold ausgestattet und hat ca. 340 Sitzplätze. Das Orchester liegt versenkt; trotzdem ist eine gute Akustik vorhanden.“ (Lerch-Stumpf 2008, S. 90–91.) Quelle: Monika Lerch-Stumpf (Hg.): Neue Paradiese für Kinosüchtige. Münchner Kinogeschichte 1945 bis 2007, München 2008, S. 89.
Film-Booklet zur DVD „Nathan der Weise“ (1922, 123 Min.), Cover
Film-Booklet zur DVD „Nathan der Weise“ (1922, 123 Min.), Cover Nach einer wechselvollen Rezeptionsgeschichte im In- und Ausland bis in die frühen 1930er Jahre geriet dieses Meisterwerk des deutschen Stummfilms jahrzehntelang völlig in Vergessenheit. 1996 entdeckte das Filmmuseum München eine Schwarzweiß-Kopie in einer Moskauer Filmsammlung. Nach aufwendiger Restaurierung gab die film & kunst GmbH in Zusammenarbeit mit dem Filmmuseum München und dem Goethe-Institut München 2006 eine DVD-Edition heraus. Hierfür wurden gemäß den Konventionen der Entstehungszeit des Films die Einfärbungen wiederhergestellt und eine musikalische Begleitung komponiert. Quelle: Stefan Drössler: „Der Fall ‚Nathan der Weise‘“, in: Manfred Noa. Nathan der Weise, Film-Booklet zur DVD-Ausgabe, 4., verbesserte Auflage 2020.
Justizrat Dr. Wilhelm Rosenthal (1870–1933), Aufsichtsratsvorsitzender der Münchner Lichtspielkunst AG, genannt EMELKA. (Fotografie um 1919)
Justizrat Dr. Wilhelm Rosenthal (1870–1933), Aufsichtsratsvorsitzender der Münchner Lichtspielkunst AG, genannt EMELKA. (Fotografie um 1919) Die Historikerin Christa Elferich, ehem. Archivarin des Münchner Vereins für Fraueninteressen, hat die Biografie meines Vorfahren, der einst wie seine Frau Lisette, geb. Billmann, Mitglied im Verein war, recherchiert. Wie sie herausfand, war Wilhelm Rosenthal neben seiner Arbeit als Rechtsanwalt durch verschiedenste Aktivitäten – darunter die Mitgründung der Münchener Lichtspielkunst AG (EMELKA) – zu einer zentralen Figur des Münchner Kulturlebens geworden. Nach der Machtübernahme durch die NSDAP verlor er bereits 1933 seine Anwaltszulassung, wogegen er aber erfolgreich klagte. Die Aufregung darüber mag zu seinem frühen Tod im gleichen Jahr beigetragen haben. Quelle: Emelka, in: Das Land Bayern. Seine kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung für das Reich, München 1927, S. 366.
Emil Emanuel Kurt Rosenthal (Künstlername Kurt Rosen) (1899–1944), Kennkartendoppel 1938–39
Emil Emanuel Kurt Rosenthal (Künstlername Kurt Rosen) (1899–1944), Kennkartendoppel 1938–39 Mein Vorfahr Emil Emanuel Kurt Rosenthal war der älteste Sohn des Justizrats Wilhelm Rosenthal und Lisette Rosenthal, geb. Billmann. Als 17- bis 19-Jähriger kämpfte er für das Deutsche Reich im Ersten Weltkrieg und wurde schwer verwundet; beide Beine mussten amputiert werden. Nach dem Krieg arbeitete er für die Münchner Lichtspielkunst AG (EMELKA). 1922 fungierte er als Produktionsmanager der Filmadaption von Lessings „Nathan der Weise“. Der als Jude geborene und 1917 protestantisch getaufte Emil Rosenthal wurde später Opfer der Verfolgung durch die Nationalsozialisten. Er wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und starb dort am 3. Februar 1944. Quelle: Stadtarchiv München, KKD-3447

Ort

Kaufingerstraße 26 80331 München

Metadaten

Judy Rosenthal, “Die Regina-Lichtspiele,” MunichArtToGo, zuletzt zugegriffen am 24. August 2025, https://municharttogo.zikg.eu/items/show/271.