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Die Postversuchssiedlung

Wie die Bayerische Post modernes Bauen in München förderte

Die Postversuchssiedlung im Stadtteil Neuhausen gilt als ein frühes Beispiel der bayerischen Postbauschule. Ende der 1920er Jahre sollte sie die akute Wohnungsnot der Postangestellten lindern. Gleichzeitig wurden hier unterschiedliche Aspekte zum Wohnbau empirisch erprobt.

Die Postversuchssiedlung, auch Versuchssiedlung des Bayerischen Post- und Telegraphenverbandes genannt, wurde zwischen 1928 und 1929 an der Arnulfstraße in München erbaut. Federführend war die „Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen“ zusammen mit den Architekten der Oberpostdirektion München Robert Vorhoelzer (1844–1954) und Walther Schmidt (1899–1993).

Die Postversuchssiedlung ist Teil der Baumaßnahmen, welche zu Beginn des 20. Jahrhunderts und vermehrt nach dem Ersten Weltkrieg gegen die wachsende (vor allem die Arbeiter:innenklasse betreffende) Wohnungsnot ergriffen wurde. Die Siedlung umfasst etwas mehr als 300 Wohnungen. Dabei wurden lediglich zwei Größen eines einzelnen Wohnungstyps ausgeführt (ein Teil der Wohnungen hat die Größe von je 57 m² und der andere eine Größe von je 70 m²), was eine einheitliche Vergleichsbasis gewährleisten sollte.

Die Anlage besteht aus einem großen Innenhof mit Grünflächen und Kinderspielplätzen, um den sich offene Zeilen gruppieren. Die Hofecken sind offengelassen und die Zeilen im Erdgeschoss durch Ladenbauten und eine Gaststätte verbunden. Je zwei Zeilen umschließen an der Ost- und Westseite den Innenhof, an der Nord- und Südseite liegt jeweils nur eine Zeile. Obwohl diese Anordnung bessere Lichtverhältnisse schaffen sollte, ergab sich bei einem Drittel der Wohnungen genau das Gegenteil: da, wie bereits erwähnt, nur ein Wohnungstyp ausgeführt und dieser sowohl für die Gebäude mit Ost-West- als auch mit Nord-Süd-Ausrichtung übernommen wurde, liegen teilweise die Schlafräume ungünstig. Dies war einer Entscheidung der Stadt München geschuldet, welche beim öffentlich subventionierten Wohnungsbau im Gegensatz zu den anderen Postbauten die Regularien der kommunalen Bauverwaltung geltend machen konnte. Die ursprünglich vorgesehene Zeilenbauweise wurde aufgrund der Randbebauungslinien des Grundstücks verweigert.

Sowohl der Fokus auf gute Lichtverhältnisse als auch die Verwendung unterschiedlicher Dachformen, Bauweisen und Materialien sowie unterschiedlicher Heizsysteme (Zentralheizung, Etagenheizung, Einzelöfen) machen den experimentellen Charakter der Siedlung deutlich.
Die Oberpostdirektion bot jungen Münchner Architekt:innen eine Möglichkeit, ihre neuartigen Ideen, welche ansonsten oft keinen Anklang (bei den traditionellen Architekten) fanden, auszuprobieren und weiterzuentwickeln. Während der Großteil solcher Bauten wie Schulen, Friedhöfe, Kirchen, Bäder, Museen oder Verwaltungsgebäude in der Art der „Altmünchner“ Architektur errichtet wurde, entwickeln die Bauten der Reichspost, welche nicht den Münchner Baubehörden unterstand, eine moderne Architektursprache – die Formen sind einfach, klar und repetitiv.

Robert Vorhoelzer und die weiteren beteiligten Architekt:innen waren der Ansicht, dass eine derartige Architektursprache, gepaart mit gepflegten Grünanlagen (auch auf einem Teil der Dächer wurden Gärten angelegt), die Bewohner:innen zu einer gesitteten Lebensweise animieren würde. Beim Planen der Siedlung wurden von den Architekt:innen Aspekte wie Inneneinrichtung oder Farben der Innenräume bestimmt (lichte Kalkfarben im Schlafzimmer, Wohnküche, Gang und Nebenräume weiß). Vorhoelzer und Hanna Löv (1901–1995), welche die Einrichtung der für die Siedlung typischen „Münchner Küche“ entwarf, besuchten regelmäßig die Bewohner:innen, um eine ordnungsgemäße Benutzung der Wohnungen zu überprüfen oder diese interessierten Besucher:innengruppen zu präsentieren.

Beim Bau dieser und ähnlicher Versuchssiedlungen richteten sich die Architekt:innen nach interdisziplinär durchgeführten wissenschaftlichen Untersuchungen, welche Vorgaben für eine adäquate Bauweise der Wohnanlagen lieferten. Darunter fällt die bereits erwähnte „Münchner Küche“ – eine abgeänderte Version der „Frankfurter Küche“. Entworfen wurde diese Wohnküche unter anderem von Hanna Löv und Erna Meyer (1890–1975). Eine teilverglaste Wand trennt dabei den Wohnbereich vom Küchenbereich und erlaubt dadurch eine Sicht- und Hörverbindung zwischen diesen beiden Bereichen. So konnte die Frau in der Küche immer noch am Familienleben teilnehmen, die integrierte Sitzecke sollte überdies Komfort für Gäste bieten.

Die Postversuchssiedlung ist Teil der Baumaßnahmen, welche die Bayerische Post aufgrund einer akuten Not an Dienstgebäuden nach dem Ersten Weltkrieg anstieß. Der für die Siedlung zuständige Robert Vorhoelzer war darüber hinaus für etwa 350 Postbauten verantwortlich, in München etwa am Goetheplatz, in Giesing und am Harras.

Noch immer steht die Siedlung, welche im Zweiten Weltkrieg teilweise zerstört und später wiederaufgebaut wurde, unter der Trägerschaft der Baugenossenschaft des Post- und Telegrafenpersonals in München und Oberbayern.


Bilder

Versuchssiedlung des Bayerischen Post- und Telegraphenverbandes, Detail Gartenhof, 2022
Versuchssiedlung des Bayerischen Post- und Telegraphenverbandes, Detail Gartenhof, 2022 Die Versuchssiedlung wurde in den Jahren 1928/29 im Zuge des Neuen Bauens von der Baugenossenschaft des Bayerischen Post- und Telegrafenpersonals München in Neuhausen errichtet. Gefördert wurde das Unterfangen von der Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen (RFG), deren Ziel es war, kostengünstigen Wohnraum auf Basis neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und neu entwickelter Bauweisen zu schaffen. Erstellt von: Alexandra Avrutina
Plan mit drei Ansichten der Postversuchssiedlung, 1927
Plan mit drei Ansichten der Postversuchssiedlung, 1927 Konzipiert wurde die Siedlung von den Architekten Robert Vorhoelzer und Walter Schmidt. Die perspektivischen Darstellungen einer Häuserfront, der Anlage von oben sowie des begrünten Innenhofs entstanden vor Baubeginn im Jahr 1927. Quelle: Laura Lucia Ingianni Altmann: Regierungsbaumeisterin in Deutschland. Die Architektin Hanna Löv (1901–1995), Basel 2021, S. 131.
Modell der Postversuchssiedlung
Modell der Postversuchssiedlung Die langestreckten, drei- bzw. viergeschossigen Bauten der Postversuchssiedlung verfügen über mehr als 300 Wohnungen. Quelle: Florian Aicher und Uwe Drepper: Robert Vorhoelzer – ein Architektenleben. Die klassische Moderne der Post, Ausst.-Kat. München/Frankfurt a. M., München 1990, S. 240.
Gartenhof der Postversuchssiedlung, 1929
Gartenhof der Postversuchssiedlung, 1929 Die großzügig funktionalistisch geplante Versuchssiedlung von betont schlichter Erscheinung ist um einen großen Innenhof gruppiert. Die Fotografie von 1929 zeigt den unlängst bepflanzten Innenhof der Anlage, welcher die Bewohner:innen zum Verweilen einladen sollte. In der Nachkriegszeit wurde die Grünfläche zum Anbau von Kartoffeln und anderem Gemüse genutzt. Quelle: Florian Aicher und Uwe Drepper: Robert Vorhoelzer – ein Architektenleben. Die klassische Moderne der Post, Ausst.-Kat. München/Frankfurt a. M., München 1990, S. 252.
Gartenhof der Postversuchssiedlung, 2022
Gartenhof der Postversuchssiedlung, 2022 Die in den 1920er Jahren konzipierte Begrünung des Innenhofes hat sich bis heute erhalten. Die vor rund 100 Jahren gepflanzten Bäume haben mittlerweile eine stattliche Größe. Erstellt von: Alexandra Avrutina
Häuserzeile der Postversuchssiedlung, Ansicht vom Innenhof
Häuserzeile der Postversuchssiedlung, Ansicht vom Innenhof Die Fassaden der Wohnanlage im Stil der Neuen Sachlichkeit sind schlicht gehalten. Quelle: Bayerischer Architekten- und Ingenieur-Verband (Hg.): München und seine Bauten nach 1912, München 1984, S. 273. Erstellt von: Ulrich Maier
Häuserzeile der Postversuchssiedlung, Ansicht vom Innenhof, 2022
Häuserzeile der Postversuchssiedlung, Ansicht vom Innenhof, 2022 Die Versuchssiedlung steht als bedeutendes Beispiel der bayerischen Postbauschule unter Denkmalschutz. Erstellt von: Alexandra Avrutina
Lageplan der Versuchssiedlung, 1928/29
Lageplan der Versuchssiedlung, 1928/29 Die Anlage besteht aus einem großen, bepflanzten Innenhof mit Grünflächen und Kinderspielplätzen, um den sich offene Häuserzeilen gruppieren. Die Hofecken sind offengelassen und die Gebäude im Erdgeschoss durch Ladenbauten und eine Gaststätte verbunden. Je zwei Wohnblöcke umschließen an der Ost- und Westseite den Innenhof, an der Nord- und Südseite jeweils nur einer. Ein Teil der Anlage verfügte anfangs über Dachgärten, welche nach dem Zweiten Weltkrieg allerdings zu Dachgeschosswohnungen umgebaut wurden. Quelle: Bayerischer Architekten- und Ingenieur-Verband (Hg.): München und seine Bauten nach 1912, München 1984, S. 272.
Seiteneingang Richelstraße, 2022
Seiteneingang Richelstraße, 2022 Die Siedlung ist von unterschiedlichen Seiten her betretbar. Auf dem Foto ist ein Seiteneingang zum ersten Innenhof zu sehen, welcher durch jeweils eine Häuserzeile vom großen Gartenhof getrennt ist. Begrenzt wird die Postversuchssiedlung von der Arnulfstraße, der Burghausener Straße, der Richelstraße und der Schäringerstraße. Erstellt von: Alexandra Avrutina
Grundriss eines Obergeschosses der Postversuchssiedlung, Ansicht zum Gartenhof
Grundriss eines Obergeschosses der Postversuchssiedlung, Ansicht zum Gartenhof Der Grundriss zeigt eine Zwei- sowie eine Dreizimmerwohnung. Durch die Ausführung von lediglich zwei unterschiedlichen Größen eines einzelnen Wohnungstyps sollte eine einheitliche Vergleichsbasis gewährleistet werden. Für den kleineren Wohnungstyp mit zwei Zimmern wurde eine Miete von 40 Reichsmark im Monat verlangt, zuzüglich 6 RM Heizkosten. Dies betrug etwas mehr als ein Viertel eines durchschnittlichen Einkommens. Die technische Ausstattung mit fließend warmem Wasser und Zentralheizung war allerdings für das Ende der 1920er Jahre ungewohnt gut. Quelle: Florian Aicher und Uwe Drepper: Robert Vorhoelzer – ein Architektenleben. Die klassische Moderne der Post, Ausst.-Kat. München/Frankfurt a. M., München 1990, S. 240.
Blick in eine Musterwohnung der Postversuchssiedlung
Blick in eine Musterwohnung der Postversuchssiedlung Die für die Siedlung zuständigen Architekt:innen waren der Meinung, dass der Eindruck der ordentlichen und hygienischen Anlage mitsamt Wohnungen die Bewohner:innen dazu anregen würde, diesem Beispiel auch selbst zu folgen. Tatsächlich fühlten sich jedoch einige Familien, die nur Altbauwohnungen kannten, in der sterilen, neuartigen Umgebung unwohl. Über die Jahre hinweg wurde die Inneneinrichtung von den Bewohner:innen daher dem eigenen Geschmack angepasst. Quelle: Florian Aicher und Uwe Drepper: Robert Vorhoelzer – ein Architektenleben. Die klassische Moderne der Post, Ausst.-Kat. München/Frankfurt a. M., München 1990, S. 253.
Inneneinrichtung eines Schlafzimmers in der Postversuchssiedlung, 1927
Inneneinrichtung eines Schlafzimmers in der Postversuchssiedlung, 1927 Bereits vor dem Einzug der späteren Bewohner:innen wurden einige Musterwohnungen komplett ausgestattet. Der architektonische Aufbau der Siedlung, aber auch die Inneneinrichtung und die Wandfarben waren für die verantwortlichen Architekt:innen von großer Bedeutung. Zeitgenössischen Aussagen zufolge wurden diese vollständig möblierten Musterwohnungen zunächst für den gleichen Preis vermietet wie die restlichen, unmöblierten Wohnungen. Später wurde allerdings doch von den Bewohner:innen ein zusätzlicher Beitrag verlangt, weswegen eine der Mietparteien sogar ausziehen musste. Quelle: Laura Lucia Ingianni Altmann: Regierungsbaumeisterin in Deutschland. Die Architektin Hanna Löv (1901–1995), Basel 2021, S. 131.
Ansicht der „Münchner Küche“, Blick aus dem Wohnzimmer in die Kochnische
Ansicht der „Münchner Küche“, Blick aus dem Wohnzimmer in die Kochnische Bei der Entwicklung neuer Küchensysteme wurde versucht, auf Basis von Studien über die Arbeitsweise von Hausfrauen eine Küche zu konzipieren, welche es diesen erlauben sollte, den Raum und ihre eigene Zeit „smart“ zu nutzen. In den Anfangsjahren wurden von den Architekt:innen immer wieder Besucher:innengruppen unangekündigt (!) durch die Wohnungen geführt, wobei die Bewohner:innen angehalten wurden, sich natürlich zu verhalten. Anhand eines realen Alltags sollte die erfolgreiche Rationalisierung der Wohnräume demonstriert werden. Solche unangekündigten Besuche waren laut Mietvertrag Voraussetzung für ein Mietverhältnis. Quelle: Florian Aicher und Uwe Drepper: Robert Vorhoelzer – ein Architektenleben. Die klassische Moderne der Post, Ausst.-Kat. München/Frankfurt a. M., München 1990, S. 248.
Isometrische Ansicht der „Münchner Küche“
Isometrische Ansicht der „Münchner Küche“ Bei der „Münchner Küche“ handelt es sich um eine abgeänderte Version der bekannten „Frankfurter Küche“, entworfen unter anderem von den Architektinnen Hanna Löv und Erna Meyer. Lediglich eine teilverglaste Wand trennt in dieser Wohnküche den Wohnbereich vom Küchenbereich und erlaubt dadurch eine Sicht- und Hörverbindung zwischen diesen. Quelle: Florian Aicher und Uwe Drepper: Robert Vorhoelzer – ein Architektenleben. Die klassische Moderne der Post, Ausst.-Kat. München/Frankfurt a. M., München 1990, S. 247.
Karikatur eines Bewohners der Versuchssiedlung, 1929
Karikatur eines Bewohners der Versuchssiedlung, 1929 Die mit „Koboldt“ unterschriebene Karikatur erschien in der Faschingszeitung des Hochbaureferats der Oberpostdirektion „Der Saliter“. Diese Zeitung nahm gern sowohl die Reaktionen der Bevölkerung auf moderne Bauprojekte als auch die Bauprojekte selbst auf die Schippe. Tatsächlich fühlten sich einige Mieter:innen, die den Alltag in Altbauten gewohnt waren, unwohl in den neuartigen und durchrationalisierten Wohnungen. Quelle: Florian Aicher und Uwe Drepper: Robert Vorhoelzer – ein Architektenleben. Die klassische Moderne der Post, Ausst.-Kat. München/Frankfurt a. M., München 1990, S. 249.
Blick in den Gartenhof der Postversuchssiedlung
Blick in den Gartenhof der Postversuchssiedlung Der Biergarten im Gartenhof ist heute nicht mehr in Betrieb. Quelle: Florian Aicher und Uwe Drepper: Robert Vorhoelzer – ein Architektenleben. Die klassische Moderne der Post, Ausst.-Kat. München/Frankfurt a. M., München 1990, S. 254.
Spielplatz im Innenhof der Postversuchssiedlung, 1930
Spielplatz im Innenhof der Postversuchssiedlung, 1930 Neben den Spielplätzen im begrünten Innenhof gab es auch eine Kinderbetreuung für die Kinder der Postbeamt:innen. Quelle: Florian Aicher und Uwe Drepper: Robert Vorhoelzer – ein Architektenleben. Die klassische Moderne der Post, Ausst.-Kat. München/Frankfurt a. M., München 1990, S. 239.
Versuchssiedlung des Bayerischen Post- und Telegraphenverbandes, Detail, 2022
Versuchssiedlung des Bayerischen Post- und Telegraphenverbandes, Detail, 2022 Erstellt von: Alexandra Avrutina

Ort

Arnulfstraße 107–163, Burghausener Straße 1/3/5/7/9/11/13, Richelstraße 32/34/36/38 und Schäringer Straße 2/4/6/8/10/12/14/16/18/20, 80634 München | Innenhof frei zugänglich

Metadaten

Alexandra Avrutina, “Die Postversuchssiedlung,” MunichArtToGo, zuletzt zugegriffen am 21. November 2024, https://municharttogo.zikg.eu/items/show/35.