Die psychiatrische Klinik in Haar
Warum Geheimrat Dr. Friedrich Vocke mit seiner Familie nach Eglfing-Haar zog
Im Zuge der Industrialisierung erlebte München einen enormen Bevölkerungszuwachs. Da es an Wohnraum mangelte, mussten viele Arbeiter an ihren Arbeitsplätzen in den Fabriken schlafen oder sich in sogenannten Herbergshäuschen stundenweise einen Schlafplatz mieten. Durch die beschwerlichen Lebensverhältnisse nahmen psychische Erkrankungen zu und die Kreisirrenanstalt war mit ihren 420 Plätzen bald dauerhaft überfüllt. Man beschloss daher den Neubau einer Anstalt mit 1.000 Dauerpflegeplätzen und fand ein Grundstück im Bereich des Eisenbahnvorortverkehrs – in Eglfing-Haar.
Geheimrat Dr. med. Friedrich Vocke (1865–1927) war Direktor an zwei wichtigen psychiatrischen Kliniken für den Großraum München: Ab 1901 in der bereits 1859 eröffneten Kreisirrenanstalt, Auerfeldstraße 19 in Au-Haidhausen und danach in der neuen Heil- und Pflegeanstalt Eglfing bei München, die er aufgrund seiner Erfahrungen und nach Erkenntnissen der neuen medizinischen Fachrichtung „Psychiatrie“ geplant hatte und die 1905 eröffnet wurde.
Dr. Vocke war überzeugt, dass der Kontakt zur Natur und viel Ruhe den Kranken helfen würden und verteilte zusammen mit dem Architekten Adolf Stauffer (Rosenheim) die benötigten Gebäude in Pavillonbauweise wie in einem Dorf. Jedes Haus wurde anders gestaltet. So entstanden 60 Gebäude mit 46 Krankenstationen, allgemeinen Abteilungen und zahlreichen Dienstwohnungen.
Ein Besucher schrieb nach seinem Besuch auf der Baustelle: „Ein Uneingeweihter käme beim Anblick der ganzen Anlage nicht auf den Gedanken, dass hier eine Anstalt für unglückliche Geisteskranke entsteht, sondern er würde glauben, dass hier eine neue Villensiedlung gebaut wird.“ (Richarz 1987, S. 32)
Wichtig war Dr. Vocke, dass die PatientInnen feste Aufgaben hatten und nach ihren Möglichkeiten mitarbeiteten. Neben der Klinik war bereits 1903 das Bezirksgut Haar entstanden, auf dem sie im Gemüsegarten, auf den Feldern oder in den Viehställen mitarbeiten konnten. Weitere Arbeitsstätten waren die Schneiderei, Korbflechterei, Schusterei, Buchbinderei, Schlosserei, Gärtnerei, Metzgerei, Bäckerei und die Koch- und Waschküche. Jährlich wurden ca. 600.000 Flaschen Limonade für den Eigenbedarf hergestellt und Patienten drehten etwa 100.000 Zigarren.
Auch für die Freizeit wurde gesorgt: Im „Gesellschaftshaus“ entstand ein zentraler Treffpunkt mit großer Bühne für Feste und Aufführungen.
Allerdings durfte man das Anstaltsgelände ohne Erlaubnis weder verlassen noch betreten.
Bei der Eröffnung der Anstalt am 12. Juli 1905 lobte Prinzregent Luitpold, Dr. Vocke sei ein sehr tüchtiger Irrenarzt und habe sich besondere Verdienste um den mustergültigen Ausbau der Anstalt nach neuesten wissenschaftlichen Gesichtspunkten erworben. Auch in der Presse wurde die neue Anstalt gelobt: „Unstreitig ist Eglfing gegenwärtig die mustergültigste Landesirrenanstalt der Welt.“ (zit. Nach Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift Nr. 8 von 1906, Seite 114)
Bereits 1909 war die „Heil- und Pflegeanstalt Eglfing“ mit 1.350 Betten voll belegt und nicht mehr erweiterungsfähig, sodass 1912 auf dem unmittelbar angrenzenden Gelände die „Heil- und Pflegeanstalt Haar“ mit etwa 900 Betten, darunter auch ein Kinderkrankenhaus, eröffnet wurde. Auch hier brachte sich Dr. Vocke ein und plante die neue Anstalt gemeinsam mit dem Architekten Richard Neithard (Hof). Da die Baupreise gestiegen waren, entstanden in Haar größere zusammenhängende Gebäude als zuvor in Eglfing. Neithard entwarf für die „Anstalt aus einem Guß“ viele Details – vom Türgriff über die Beleuchtungskörper bis hin zu den Heizungsgittern.
Beide Anstalten waren zunächst selbständig und wurden erst 1931 zur „Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar“ mit 3.000 Plätzen zusammengelegt. Insgesamt entstanden so 96 – heute denkmalgeschützte – Gebäude im späten Jugendstil.
Als Würdigung der Verdienste von Friedrich Vocke wurde eine Straße nach ihm benannt. So haben einige Haarer Bürger „Vocke“ in ihrer Wohnadresse stehen, denn die Hauptverkehrsstraße von Nord nach Süd, eine Bundesstraße, trennt als „Vockestraße“ die ehemaligen Anstalten Eglfing ("Haar I") und Haar ("Haar II") in Ost-West Richtung.
Auf dem Gelände können neben der evangelischen Kirche zwei Mahnmale besucht werden, die der Opfer der NS-Zeit gedenken. Im Rahmen der nationalsozialistischen „Euthanasie“- Aktionen wurden zwischen 1939 und 1945 etwa 300.000 Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen ermordet. Ein zentraler Ort der Selektion und teilweise auch der Tötung war die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar. Annähernd 4.000 Menschen wurden hier ermordet oder in eine Tötungsanstalt deportiert.
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