Das Wohngebäude in der Holbeinstraße 10
„Eines der frühen vollkommen unhistorisch, betont und eigenwillig asymmetrischen Wohnhäuser in München […]“ (Münchener Fassaden, S. 156)
Auffällig unauffällig reiht sich das Haus mit der Hausnummer 10 in die vielgestaltigen Fassadenfronten der Holbeinstraße ein. Auf den ersten Blick wirkt es völlig uninteressant, schlicht und schmucklos. Tatsächlich ist die Geschichte dieses Hauses ausgesprochen spannend und überraschend.
Im Jahr 1899 wurde das Wohnhaus für Gustav Nassauer, den Expeditionschef der Allgemeinen Zeitung (München) errichtet. Den Entwurf für das sogenannte Haus Nassauer lieferte der Architekt Paul Vincent Paravicini. Im Jahr 1872 geboren, stammte Paravicini ursprünglich aus Frankfurt am Main, wohin er nach seinem Aufenthalt in München zurückkehrte. Die Holbeinstraße 10 ist das einzige von ihm entworfene realisierte Bauwerk in München. In Frankfurt am Main war er aktiver und gestaltete eine deutlich größere Anzahl an Gebäuden.
Früher wie heute ist das Haus in drei Stockwerke und ein Souterrain unterteilt. Ein aufgrund des später errichteten Nebengebäudes kaum erkennbarer vierstöckiger Turm rahmt die rechte Seite des Hauses. Etwa auf halber Höhe der Fassade bricht diese in einem trapezförmigen Erker-Gebilde mit einer Balkonbekrönung aus und wird weiterhin zur Linken von zwei Loggien mit Balustrade weitergeführt, welche sich über die unteren zwei Etagen erstrecken.
Die Fassade wurde zur Zeit der Erbauung in der dritten und vierten Etage sowie im Dachgeschoss von einer besonderen Formation gekrönt: Über die gesamte Breite des Hauses und über beide Stockwerke und auch die Dachschrägen erstreckten sich enorme Atelierfenster, die lediglich vom Kreuzgesims des Hauses unterbrochen wurden. Dadurch konnte die lichtdurchflutete oberste Etage als Atelierraum genutzt werden. Nach oben wurde diese Gestaltung von einer eingezäunten Dachterrasse abgeschlossen.
Die Gestaltung der Eckpfeiler der Dachaltane korrespondierte mit der Einfriedung des kleinen Gartenbereichs. Massive Betonpfeiler mit Eisenstreben zäunen den vorderen Bereich des Grundstücks ein. Ein asymmetrischer Eingangsbogen führte zum Eingangsbereich im Erker, der von einem Glasvorbau überdacht wurde. So entstand eine optische Verbindung mit den Ateliergeschoßen der Fassade.
Obwohl das Haus um 1900 alleine auf einem freien Feld stand, hatte es keine Fenster an den seitlichen Flanken. Es ist daher zu vermuten, dass die heute vorhandene Häuserreihe schon damals geplant war.
Als eines der frühsten Bauwerke in der Holbeinstraße schuf Paravicini mit seinem damals neuartigen architektonischen Konzept ein frühes Beispiel für die Ablehnung historisierender Stile. Auch die eigenwillige Asymmetrie lässt sich in den später entstandenen Jugendstilbauten der Holbeinstraße wiederfinden.
Im Laufe der Jahre wurden an dem Gebäude weitreichende Veränderungen umgesetzt. Darunter zählen unter anderem der Abriss des Glasanbaus am Eingang, von dem sich die Architekten Max Kirschner und Sigmund Weidenschlager für ihre Jugendstilbauten in der Holbeinstraße Nummer 4 und 8 hatten inspirieren lassen, sowie der Umbau des verglasten Atelierdachs, das durch ein Satteldach ersetzt wurde. Der signifikanteste Eingriff an der Architektur des Hauses erfolgte jedoch durch eine Änderung der Fassadengestaltung. Wo früher an der Stelle des ehemaligen Ateliers die große stockwerkübergreifende Fensterfront das Fassadenbild schmückte, sind hier nun vier symmetrisch platzierte Fenster eingebaut. Ebenso wurde der Dachstuhl im Jahr 2002 mit zwei hervorspringenden Dachgauben ausgebaut. Eine wahrscheinliche Ursache für diese einschneidende Veränderung der Fassade ist die Anpassung des Gebäudes an die Nutzung als Mietshaus, wobei kaum Rücksicht auf das ursprüngliche Konzept Paravicinis genommen wurde. Heute ist das Haus der Holbeinstraße 10 denkmalgeschützt.