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Der Kaim-Saal

Klangvolle Architektur – wo die Münchner Philharmoniker ihre Anfänge nahmen

Die „Kunststadt München“ hat eine lange Tradition nie realisierter oder nicht mehr erhaltener Konzerthäuser – eines davon ist der im Zweiten Weltkrieg zerstörte Kaim-Saal. Der um die Jahrhundertwende als erster großer kultureller Multifunktionsbau errichtete Konzertsaal war Spielstätte des „Kaim-Orchesters“, aus dem die Münchner Philharmoniker hervorgegangen sind.

Merkwürdigerweise ist es fast immer der Kaimsaal, wo ich Sie sehe – was daher kommt, daß ich Sie früher oft dort durch das Opernglas beobachtete, bevor wir uns kannten.“ So schrieb Thomas Mann 1904 in einem Brief an seine spätere Frau Katja Pringsheim, die regelmäßig im Publikum des Kaim-Saals saß. Und auch in seinem „Doktor Faustus“ fand der Saal Erwähnung.

Seinen Namen verdankte der direkt gegenüber dem Wittelsbacher Palais gelegene Konzertsaal Franz Kaim (1856–1935), dem Sohn eines in Kirchheim/Teck ansässigen Klavierfabrikanten. Kaim veranstaltete in München seit 1891 unter dem Titel „Kaim-Konzerte“ Klavier- und Gesangsabende, die nicht zuletzt den Absatz der Instrumente seines Vaters steigern sollten. Da sich diese Konzerte großer Beliebtheit erfreuten, gründete Kaim 1893 ein eigenes Orchester, das sogenannte „Kaim-Orchester“. Dieses gewann aufgrund geschickter Programm- und Preisgestaltung, der Einführung von Abonnementskonzerten und seit 1898 auch Volkssinfoniekonzerten rasch an internationalem Renommee. Bald entstand daher der Wunsch nach einem eigenen Konzertsaal, denn in der "Kunststadt München" fehlte es zu jener Zeit noch an einem geeigneten Saal. So entschloss sich Kaim 1895 in Privatinitiative zum Bau eines Konzerthauses an der Türkenstraße Ecke Prinz-Ludwig-Straße und beauftragte dafür den Architekten Martin Dülfer (1859–1942). Dies stand wohl in Zusammenhang mit dem 1. Preis, den Dülfer ein Jahr zuvor für seinen Wettbewerbsentwurf für ein Konzert- und Ballhaus auf dem Anwesen der Großbrauerei Georg Pschorr in der Neuhauser Straße errungen hatte – ein Projekt, das allerdings nie realisiert wurde. Auch das Gelände in der Maxvorstadt gehörte ursprünglich der Pschorr-Brauerei und bereits 1890 gab es nie umgesetzte Pläne der Brauerei für ein „Ball- und Concerthaus nebst Stadtgarten“, die eine weitläufige Gartenanlage mit neobarocker Architektur vorsahen.

Anstelle dessen wurde schließlich 1895 auf dem mittlerweile parzellierten Gartengrundstück innerhalb von nur sechs Monaten Bauzeit der Kaim-Saal nach den Plänen von Dülfer errichtet. Die Kosten beliefen sich auf 835.000 Mark. Der Konzertbau erstreckte sich über vier Stockwerke. Während die Fassade des Eckgebäudes im schlichten Louis-Seize-Stil gestaltet war, waren die Innenräume größtenteils mit neobarockem Dekor versehen. Der Eingang erfolgte über die Türkenstraße. Im Erdgeschoss befanden sich ein großes Foyer, die Garderobe und ein Restaurant, das sich aufgrund seiner Größe allerdings als unrentabel erwies und deshalb zu einem Theatersaal umgebaut wurde. Über eine dreiläufige Haupttreppe erreichte man die oberen Stockwerke mit dem über zwei Geschosse reichenden Großen Saal, einem kleinen Kammermusiksaal sowie zahlreichen Nebenräumen.

Die hohen Ausgaben für Konzertsaal und Orchester brachten Kaim allerdings in finanzielle Schwierigkeiten. Durch die Gründung des „Konzertvereins München“ konnte 1908 diese Schieflage behoben werden. 1924 übernahm die Stadt München das inzwischen in „Konzertvereins-Orchester“ umbenannte Orchester, das bald darauf seinen heutigen Namen „Münchner Philharmoniker“ erhielt.

Das Veranstaltungsprogramm des Kaim-Saals war vielfältig. Es umfasste nicht nur zahlreiche Konzerte, sondern auch Kongresse, Ausstellungen, Bälle und Theatervorstellungen. So wurden etwa 1903 einige Szenen aus Arthur Schnitzlers skandalträchtigem „Reigen“ uraufgeführt. 1907 wurde in dem nunmehr in „Tonhalle“ umbenannten Kaim-Saal der „Münchner Kongress“ der Theosophischen Gesellschaft abgehalten, der die Trennung von Rudolf Steiner (1861–1925) von dieser Vereinigung markierte. Dieser wiederum präsentierte hier 1913 die weltweit erste Eurythmie-Vorführung. Alexander Sacharoff (1886–1963) gab 1910 hier sein Debüt als Solotänzer. 1926 war die „Tonhalle“ Schauplatz der großen von Thomas Mann initiierten Kundgebung „Kampf um München als Kulturzentrum“ und 1934 fand hier vor begeistertem Publikum das letzte Konzert der Comedian Harmonists in Bayern statt.

Am 25. April 1944 durch einen Luftangriff stark beschädigt, wurde die „Tonhalle“ nach dem Krieg komplett abgebrochen und nicht wieder aufgebaut. Der Kaim-Saal reiht sich damit ein in die Vielzahl zerstörter oder nie gebauter Konzerthäuser in München.

Audio

Zeitgenössische Kritik zur Garderobensituation des Kaim-Saals „[...] Verfehlt, und zwar gründlich, sind nur die Garderoben, eine Menschenzerquetschungs-Anstalt alten Stiles [...].“ Quelle: Deutsche Kunst und Dekoration 9 (1898), Heft 10, S. 150f. Erstellt von: Zentralinstitut für Kunstgeschichte

Bilder

Ansicht des Kaim-Saals, um 1900
Ansicht des Kaim-Saals, um 1900 Das Konzert- und Ballhaus wurde 1895 nach Plänen von Martin Dülfer an der Türkenstraße Ecke Prinz-Ludwig-Straße gegenüber dem Wittelsbacher Palais errichtet. An der Ecke trug es ein Medaillon mit der Aufschrift „KAIM-SAAL“. Vorbild für den Lüftungsturm waren die Türme der Salzburger Kollegienkirche. Quelle: Richard Streiter: Münchener bürgerliche Baukunst der Gegenwart, Bd. 7: Bierkeller, Gasthäuser, Vergnügungs-Etablissements, München 1903, Taf. 27.
Planskizze für ein „Ball- und Concerthaus nebst Stadtgarten“, 1890
Planskizze für ein „Ball- und Concerthaus nebst Stadtgarten“, 1890 Bereits 1890 wurde im Auftrag der Pschorr-Bauerei ein Entwurf für ein „Ball- und Concerthaus nebst Stadtgarten“ gegenüber dem Wittelsbacher Palais ausgearbeitet, der jedoch nicht realisiert wurde. Quelle: Stadtarchiv München, NL-WEIN-0331
Giebel zur Prinz-Ludwig-Straße
Giebel zur Prinz-Ludwig-Straße Die Bestimmung des Kaim-Saals als Konzertsaal betonte der mit Musikinstrumenten verzierte Giebel an der Nordseite. Quelle: Richard Streiter: Münchener bürgerliche Baukunst der Gegenwart, Bd. 7: Bierkeller, Gasthäuser, Vergnügungs-Etablissements, München 1903, Taf. 26.
Fassade an der Türkenstraße, 1896
Fassade an der Türkenstraße, 1896 Die Fassade des Kaim-Saals war im schlichten Louis-Seize-Stil mit anklingendem Jugendstil gestaltet und wies eine starke Farbigkeit auf. Quelle: Max Creutz: Martin Dülfer, Berlin 1910, S. 5.
Grundriss des Erdgeschosses, vor 1901
Grundriss des Erdgeschosses, vor 1901 Der Eingang erfolgte über eine kleine Vorhalle, die weiter ins große Vestibül führte. Im Erdgeschoss befanden sich außerdem die Garderobenräume, ein großzügiges Restaurant, eine Weinstube sowie das Haupttreppenhaus. Quelle: Eduard Schmitt (Hg.): Handbuch der Architektur, Bd. IV,6,3, Stuttgart 1901, Abb. 260.
„Gruß aus dem Kaim-Saal“, Postkarte, 1900
„Gruß aus dem Kaim-Saal“, Postkarte, 1900 Das Restaurant war, wie auf der Postkarte unten links zu sehen ist, in der großen Säulenhalle im Erdgeschoss untergebracht. Dülfer versuchte hier einen Restaurationsbetrieb mit einer Kultureinrichtung zu kombinieren. Aufgrund seiner Größe war das Restaurant jedoch unrentabel, weswegen es 1902 zu einem Theatersaal umgebaut wurde. Quelle: Stadtarchiv München, FS-PK-STB-11657
Grundriss des Saalgeschosses, vor 1901
Grundriss des Saalgeschosses, vor 1901 Das erste Geschoss war als Hauptgeschoss ausgebildet. Hier gelangte man in den über zwei Stockwerke reichenden Großen Konzertsaal. Quelle: Eduard Schmitt (Hg.): Handbuch der Architektur, Bd. IV,6,3, Stuttgart 1901, Abb. 255.
Großer Konzertsaal, um 1898
Großer Konzertsaal, um 1898 Der Große Konzertsaal wurde für unterschiedlichste Anlässe genutzt. Konzerte, Bälle, Ausstellungen und Kongresse fanden hier statt. Quelle: Illustrirte kunstgewerbliche Zeitschrift für Innendekoration 9 (1898), Heft 10, Beilage nach S. 148.
Großer Konzertsaal, um 1910
Großer Konzertsaal, um 1910 Der 500 qm große Saal wurde von einem gedrückten Tonnengewölbe überfangen. Die Galerie gilt als eine der frühesten Eisenbetonkonstruktionen Münchens. Die Orgel mit 50 Registern wurde von der Firma Walcker 1895 als Opus 733 gebaut. Auf ihr wurde u. a. Max Regers „Choralfantasie op. 52 Nr. 3“ uraufgeführt. Quelle: Zentralinstitut für Kunstgeschichte, Photothek/Archiv, Th058738 / © Bildarchiv Foto Marburg Erstellt von: Carl Teufel
Foyer, 1909
Foyer, 1909 Das Foyer im ersten Geschoss wurde auch als Ausstellungssaal genutzt. Quelle: Stadtarchiv München, FS-PK-STB-09827
Haupttreppenhaus, 1896
Haupttreppenhaus, 1896 Die Haupttreppe war dreiläufig angelegt. Die einzige erhaltene Aufnahme des Treppenhauses zeigt eine schlichte Wandgliederung durch Pilaster und Gurtbögen und ein großes Medaillon mit der Darstellung von Musizierenden in einer idealen Landschaft. Quelle: Max Creutz: Martin Dülfer, Berlin 1910, S. 5.
Grundriss des Galeriegeschosses, vor 1901
Grundriss des Galeriegeschosses, vor 1901 Im zweiten Geschoss befand sich neben dem Zugang zur Galerie des Großen Saals auch noch ein kleiner Konzertsaal. Quelle: Eduard Schmitt (Hg.): Handbuch der Architektur, Bd. IV,6,3, Stuttgart 1901, Abb. 243.
Kammermusiksaal, o. D.<br />
Kammermusiksaal, o. D.
Ebenso wie der Große Konzertsaal war auch der Kammermusiksaal im zweiten Stockwerk mit neobarocken Stuckdekorationen versehen. Quelle: Dieter Klein: Martin Dülfer. Wegbereiter der deutschen Jugendstilarchitektur, München 1993, S. 104.
Entwürfe für Glasfenster, 1895
Entwürfe für Glasfenster, 1895 Der Glasmaler Karl Ule (1858–1945) entwarf für das Konzerthaus eine Bleiverglasung mit Opalescentglas. Quelle: Deutsche Kunst und Dekoration 1 (1897–1898), S. 40.
Orchester und Chor auf der Bühne des Großen Konzertsaals, um 1910
Orchester und Chor auf der Bühne des Großen Konzertsaals, um 1910 Der Kaim-Saal war das Stammhaus des „Kaim-Orchesters“, welches später in „Münchner Philharmoniker“ umbenannt wurde. Quelle: Stadtarchiv München, FS-NL-PETT1-3717
Die  „Tonhalle“, 1910
Die „Tonhalle“, 1910 Die Über-Eck-Ansicht war die Hauptansicht des Kaim-Saals, der im Oktober 1905 in „Tonhalle“ umbenannt wurde. Quelle: Stadtarchiv München, FS-PK-STB-09825
Ruine der „Tonhalle“, 1948
Ruine der „Tonhalle“, 1948 Bei einem Luftangriff am 25. April 1944 wurde die „Tonhalle“ stark beschädigt und nach dem Krieg nicht wieder aufgebaut. Quelle: Stadtarchiv München, FS-HB-IV-0012
Aktuelle Bebauung, 2022
Aktuelle Bebauung, 2022 Anstelle der zerstörten „Tonhalle“ wurde zwischen 1967 und 1969 das „Haus des Bayerischen Gastgewerbes“ errichtet. 2015 ist der Bayerische Hotel- und Gaststättenverband DEHOGA Bayern zurück an seinen alten Standort, in das wiederum neu erbaute „Prinz-Ludwig-Palais“, gezogen. Erstellt von: Krista Profanter
Gedenktafel an der Türkenstraße 7, 2022
Gedenktafel an der Türkenstraße 7, 2022 Einzig eine bereits am Vorgängerbau angebrachte Gedenktafel im Durchgang erinnert heute noch an das einst berühmte Münchner Konzerthaus. Erstellt von: Krista Profanter

Ort

Türkenstraße 7 (ehemals 5), 80333 München | Nicht erhalten

Metadaten

Krista Profanter, “Der Kaim-Saal,” MunichArtToGo, accessed 28. April 2024, https://municharttogo.zikg.eu/items/show/8.