Ein keltischer Arzt in der Hofbauernstraße von Obermenzing
Das Grab eines Chirurgen und Kriegers
Die überraschende Entdeckung eines Arztgrabes bietet nach Jahrtausenden die Möglichkeit, einen Mann kennenzulernen, der kämpfte, aber auch heilte. Das Grab gestattet einen seltenen Einblick in die rätselhafte und bisher weitgehend im Dunkeln liegende Medizin der Kelten.
Wer würde schon vermuten, dass sich in seinem Garten ein Friedhof aus der Frühgeschichte befindet? Vermutlich wäre auch der Postinspektor Schild nicht einmal im Traum auf diese Idee gekommen, bis er im Sommer des Jahres 1910 auf seinem Grundstück in der Hofbauernstraße nahe bei der Blutenburg in Obermenzing auf eine Begräbnisstätte aus der jüngeren Eisenzeit, der „Latènezeit“ stieß. Dabei handelt es sich um die letzte prähistorische Epoche im mitteleuropäischen Raum. Sie dauerte von ca. 450 v. Chr. bis zum Jahr 15 v. Chr. und wird mit den Kelten in Verbindung gebracht.
Nachdem Herr Schild auf acht Gräber gestoßen war, fand drei Jahre später eine archäologische Ausgrabung auf seinem Grundstück statt, die neun weitere Gräber zu Tage förderte. Die Toten hatte man, wie für die Mittellatènezeit (250–150 v. Chr.) üblich, in Flachgräbern, auf dem Rücken liegend bestattet und mit Beigaben ausgestattet. Zu dieser Zeit setzte außerdem allmählich die Sitte der Brandbestattung ein. Dabei wurden die Verstorbenen auf einem Scheiterhaufen verbrannt und der sogenannte „Leichenbrand“ (Asche und Knochenreste) anschließend mit oder ohne Urne in einem Grab beigesetzt. Unter den Bestattungen aus Obermenzing fanden sich mindestens drei solcher Brandgräber, bei denen man die Asche ohne Urne auf den Boden der Grabgrube gestreut hatte. Hierzu zählt auch Grab 7, das durch seine Beigabenausstattung herausstach: Es erwies sich als letzte Ruhestätte eines Chirurgen der Zeit um 200 v. Chr. und damit als eines der ältesten bekannten Arztgräber Mitteleuropas. Da man dem Verstorbenen sein Handwerkszeug mit ins Grab gelegt hatte, war es möglich, ihn als Arzt zu identifizieren. Zu den medizinischen Instrumenten gehörten zwei Skalpelle, ein Wundhaken und eine Knochensäge, die alle aus Eisen gefertigt waren. Um das Rosten zu verhindern, hatte man die Klinge der Säge mit Bronze überzogen.
Dass es sich bei dem Toten um einen Mann handelte, legen die weiteren Grabbeigaben nahe. Ein Schwert mit Scheide, eine Lanze, ein Schild, ein Rasiermesser sowie die Überreste eines Pferdegeschirrs gehören zur charakteristischen Ausstattung eines Mannes.
Die Vorderseite der Schwertscheide ziert unterhalb des Griffs eine Triskele mit Vogelkopfenden. Dem magischen Symbol der Unendlichkeit erwachsen aus einem gemeinsamen Zentrum drei geschwungene Achsen oder Flügel.
Das medizinische „Knowhow“ im keltischen Europa ist nicht zu unterschätzen. Obwohl mangelnde Hygiene und Fachwissen insbesondere bei schweren Erkrankungen die Überlebenschancen minderten, wurden schon weit früher, seit der Steinzeit, Operationen durchgeführt, die nicht unbedingt zum Tod führten. Aus der Eisenzeit des letzten Jahrtausends v. Chr. stammen die Überreste mehrerer Menschen, bei denen Schädeloperationen erfolgreich durchgeführt wurden und verheilt waren.
Das medizinische Wissen jener Zeit beruhte auf einem generationenübergreifenden Erfahrungsschatz und wurde durch mündliche Überlieferung weitergegeben. Außerdem spielte mit Sicherheit auch der Wissensaustausch zwischen den Kulturen des Mittelmeerraums und Mitteleuropas eine große Rolle; so zeigen die Werkzeuge aus Obermenzing Ähnlichkeit mit medizinischen Instrumenten aus dem griechischen Raum, die man dort allerdings nicht aus Eisen fertigte.
Welche Wunden der Arzt aus Obermenzing im Laufe seines Lebens behandelte, für welche Operationen er sein Chirurgenbesteck einsetzte und wie erfolgreich er dabei war, ist heute nicht mehr feststellbar. Die für die Kelten unübliche Beigabe von Werkzeug, zusammen mit mehreren Waffen, stellt allerdings eine besonders reiche Grabausstattung dar und lässt vermuten, dass es sich hier um eine bedeutende Person gehandelt hat, die als Krieger und Arzt gewissermaßen Tod und Heilung vereinte.
Obwohl bisher selten, gibt es einige Gräber der jüngeren Eisenzeit, die der Bestattung aus Obermenzing ähneln. In Gräbern aus Zukowice (Polen), Batina-Kisköszeg (Serbien), Galatii Bistritei (Rumänien) und Zvonimirovo (Kroatien) fand man neben Waffen ebenfalls chirurgische Instrumente als Beigaben. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese „Kriegerärzte“ in ihrer jeweiligen Gemeinschaft einen hohen Status innehatten und Teil einer lokalen Elite waren.