Schätze aus einer etwa 400 Jahre lang genutzten Latrine und was diese über die Kochkunst des mittelalterlichen Münchens verraten.
Vom Zweiten Weltkrieg bis zum Beginn der Arbeiten an der zweiten S-Bahn-Stammstrecke im Jahr 2017 war der Marienhof die größte Freifläche der Münchner Altstadt. Vom Mittelalter bis zu den Luftangriffen 1944 hatte es dort jedoch eine durchgängige Besiedlung gegeben. Der Marienhof war bis dahin ein belebtes Stadtviertel mit Wohnhäusern, Handwerksbetrieben und Geschäften. Es lag in unmittelbarer Nähe zum Alten Hof und zum Marienplatz, auf dem die verschiedenen Märkte für Lebensmittel stattfanden. Über den heutigen Marienhof verlief auch die erste, mittelalterliche Stadtmauer. Daher war das hektargroße Areal buchstäblich eine Fundgrube für die Stadtgeschichte. Bevor die Bodenschätze bei den Aushebungen für immer verloren gegangen wären, fanden in den Jahren 2011 und 2012 umfangreiche archäologische Ausgrabungen statt, die alle vorherigen Grabungen in der Altstadt in den Schatten stellten. Mit der Marienhof-Grabung wurde die zweite Stammstrecke zum Auslöser für eine München-Archäologie im großen Stil. Die Grabungen gaben auch den Anlass für die Gründung des Forschungsprojektes "Archäologie München", das von der Landeshauptstadt gefördert wird und dessen Leitung bei der Archäologischen Staatssammlung liegt.
Der Kriegsschutt war bei diesen Ausgrabungen nur die oberste Schicht. Neben altem Mauerwerk und Kellern wurden 15 tiefe Schächte ergraben: Brunnen, die im Mittelalter angelegt wurden und später als Abfallgruben und Latrinen dienten. Solche Schächte ermöglichen es, einen Querschnitt durch die Zeit zu erforschen. Sie enthalten ein breites Spektrum an meist entsorgten Gegenständen, die Auskunft über das Leben und den Alltag der Menschen geben, wie Keramik, Glas, Werkzeug, Holz, Leder, Tierknochen und Pflanzenreste.
Schacht 1 befand sich wie Schacht 5 an der nordwestlichen Ecke des Marienhofs knapp außerhalb der Stadtmauer. Seit seiner Errichtung im 13. Jahrhundert wurde der Schacht kontinuierlich 400 Jahre lang bis ins 17. Jahrhundert als Latrine und zur Abfallentsorgung genutzt und von Zeit zu Zeit geleert.
In dem ungefähr fünf Meter tiefen Schacht fanden sich bei den Ausgrabungen Alltagsgegenstände wie Pfeifen, Spielwürfel und Steine, aus Holz gefertigte Löffel, Schalen und eine Klobrille, sowie ein Kinderstiefel aus Leder und Textilreste aus Wolle, Leinen und Seide. Die geborgenen Keramikscherben gehören zum ältesten Typ mittelalterlicher Keramik aus der Münchner Innenstadt. Eher unerfreulich waren die unter dem Mikroskop entdeckten Parasiten wie Spul- und Peitschenwürmer, die vermutlich auf eine schlechte Hygiene zurückzuführen sind, sowie Bandwürmer, die darauf hindeuten, dass verseuchtes Fleisch vor dem Verzehr nicht gut genug durchgegart wurde.
Ein besonders interessanter Fund war im untersten Viertel des Schachtes. Dort kam ein 700 Jahre alter, beinahe unversehrter Keramiktopf von fast 19 Zentimetern Höhe zum Vorschein. Brand- und Rußspuren an der Außenseite des Topfes bezeugen, dass er zum Kochen auf einem Herd mit offener Flamme verwendet worden war. Das Resultat seines letzten Gebrauchs ist noch in ihm enthalten: Eine klumpige Masse, die nahezu versteinert am Ton klebt. Mit bloßem Auge sind Kirsch- und Pflaumensteine erkennbar, daneben wurden Äpfel und Beeren nachgewiesen. Anscheinend hat jemand um das Jahr 1315 ein Mus gekocht und dabei die Zeit vergessen. Das Mus war möglicherweise als Nachspeise oder Beilage für einen Brei aus Getreide gedacht. Die teerartig eingebrannte Masse konnte offenbar nicht mehr von dem Topf gelöst werden und war wohl der Grund dafür, dass der nunmehr unbrauchbare Topf in der Latrine entsorgt wurde. Dort in der Tiefe des Schachtes hat er die Jahrhunderte und die Weltkriegsbomben sicher überstanden.