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Das Stammgebäude der TUM

Gottfried von Neureuthers Architektonischer Stilwandel

Mit dem Bau der Neuen Polytechnischen Schule (1864–1868) gelingt es dem Architekten Gottfried von Neureuther (1811–1887) den bis dahin vorherrschenden Maximilianstil abzulösen. Durch ungewöhnliche Stilentscheidungen in Anlehnung an Gottfried Semper (1803–1879) läutet das Gebäude die Neorenaissance in München ein und markiert einen „Wendepunkt und [den] Beginn einer neuen Ära in der Münchener Architektur“ (Nerdinger und Hufnagl 1978, S. 84).

Im Zuge der Industrialisierung der mitteleuropäischen Gesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert entstanden technisch orientierte Hochschulen, die sich von der humanistischen Lehre der Universitäten durch ihre technisch-rationale Ausbildung abgrenzten. Durch die Gründung des Polytechnischen Vereins in Bayern im Jahr 1815 gewann die technische Forschung und Lehre zunehmend an Bedeutung, scheiterte vorerst jedoch an finanziellen Mitteln.

1861 erfolgte die Reform aller technischen Unterrichtsformen, die den Bau einer Technischen Hochschule mit unterschiedlichen Fachrichtungen miteinschloss. Für die bauliche Konzeption der Anlage wurde der Münchner Architekt Gottfried von Neureuther vorgeschlagen; die Fertigstellung wurde für das Jahr 1868 geplant.

Neureuther plädierte für einen Standort im Gebiet zwischen Theresien-, Gabelsberger- und Arcisstraße, direkt neben der Pinakothek (heute Alte Pinakothek). Der frühere König Ludwig I. stand dem Vorschlag kritisch gegenüber, da die Pinakothek in ihrer Imposanz nicht durch große umliegende Gebäude beeinträchtigt werden sollte. Die an die Pinakothek angrenzenden Grundstücke unterlagen daher strengen Baubeschränkungen, sodass dem Architekten Neureuther zunächst Bauflächen und leerstehende Gebäude an anderen Stellen der Stadt vorgeschlagen wurden. Hauptargument für den Standort neben der Pinakothek war, dass alle großen Gebäude der öffentlichen Kunst, Wissenschaft und Technik sich in der Nähe befänden. Neureuther versicherte, dass durch den Neubau der neuen Wissenschaftseinrichtung die Wirkung der Pinakothek nicht gemindert werde. Erst nachdem Neureuther mit einer Amtsniederlegung drohte, wurde der Standort akzeptiert und er offiziell als Architekt und Bauleiter eingesetzt.

Für den Entwurf übernahm Neureuther wesentliche Elemente der Polytechnischen Schule in Zürich (der heutigen ETH), die von dem damals bedeutendsten Baumeister im deutschen Sprachraum, Gottfried Semper, errichtet worden war. Die Münchner Hochschule wurde als dreistöckiger Flügelbau mit Erdgeschossrustika sowie Eck- und Mittelrisaliten konzipiert, die mit farbig gemalten Friesen, Sgraffito-Wanddekorationen, plastischem Schmuck sowie Portrait-Medaillons zeitprägender und berühmter Gelehrter der Naturwissenschaft, Architektur, Kunst und Literatur dekoriert wurden. Auch die Innenraumkonzeption folgt Sempers Ausführung in der Abfolge von Vestibül, zurückgesetztem Treppenhaus und Aula im Obergeschoss. Neureuther legte zudem besonderen Wert auf repräsentatives Dekor, was in Korrelation zum Bildprogramm der Außenfassade stand.

Neureuthers Neorenaissancebau stieß durchweg auf positive Reaktion, sodass er unmittelbar nach der Fertigstellung den nächsten Auftrag für die Gestaltung des Gebäudes der Akademie der Bildenden Künste erhielt.

Die Anzahl der Studierenden stieg seit der Eröffnung rasch an, sodass eine Erweiterung des Stammgebäudes notwendig wurde. Diese erfolgte von 1910 bis 1916 nach den Entwürfen des Münchner Architekten Friedrich von Thiersch (1852–1921), dessen Umsetzung sich besonders durch die Natursteinausstattung und den Uhrenturm an der Gabelsbergerstraße auszeichnet. Im Jahr 1923 folgten umfangreiche Erweiterungen des Münchener Architekten German Bestelmeyer (1874–1942) entlang der Arcisstraße. Diese beiden Maßnahmen schlossen in Dimensionen und Stil eng an den Neureuther-Bau an, indem sie dessen Adaption italienischer Palastarchitektur mit Prinzipien der zeitgenössischen Moderne verbanden.

Der Mittelteil des Hauptgebäudes der Technischen Universität (Umbenennung 1877) wurde 1944 während der Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt. Bestelmeyers Seitenflügel wurden wieder aufgebaut, ein Großteil der Überreste des Neureuther`schen Hauptgebäudes wurde dagegen abgetragen. Ein Neubau des Architekten Robert Vorhoelzer (1884–1954), der bereits in den 1920er Jahren mit diversen Postbauten in München eine moderne Formensprache repräsentierte und zudem Rektor der Technischen Universität war, ersetzte nicht nur den imposanten Hauptbau Neureuthers, sondern bebaute auch den zur Arcisstraße gelegenen Hof, sodass die Dreiflügelstruktur vollständig verschwand. Neureuthers Bau lässt sich heute nur noch in Fragmenten betrachten: Reste der Originalfassade stehen an der Gabelsbergerstraße sowie im südlichen Innenhof des Stammgeländes und fügen sich in die vielschichtige Architektur aus über 150 Jahren Baugeschichte ein.

Bilder

Außenansicht von Nordwest aus der Arcisstraße, um 1870
Außenansicht von Nordwest aus der Arcisstraße, um 1870 Die Schaufassade des Baus erstreckt sich über 310,5 Meter und wurde von dem Architekten Gottfried von Neureuther im Stil der Neorenaissance ausgeführt. Im Sinne der historischen Architekturauffassung ist das Gebäude mit einem aufwendigen Bildprogramm, wie Medaillon-Porträts unter dem Hauptgesims, die bedeutende Natur- und Geisteswissenschaftler sowie Ingenieure würdigen, ausgeschmückt. Quelle: Zentralinstitut für Kunstgeschichte Photothek/Archiv, Rara-ZI-264456-1 Erstellt von: Otto Weihrauch
Außenansicht von Südosten, vor 1910
Außenansicht von Südosten, vor 1910 Die Polytechnische Schule wurde als dreistöckiger Flügelbau mit Erdgeschossrustika sowie Eck- und Mittelrisaliten konzipiert. Durch den Renaissanceeinfluss und die Verwendung ausschließlich bayrischer Materialien gelang mit der Neuen Polytechnischen Schule ein Baustilwechsel hin zur Neorenaissance in Bayern. Quelle: Zentralinstitut für Kunstgeschichte Photothek/Archiv, ZI-0933-04-01-Th058709 / © Bildarchiv Foto Marburg Erstellt von: Carl Teufel
Fassadenaufriss und Grundriss, 1872
Fassadenaufriss und Grundriss, 1872 Die Raumkonzeption hing eng mit den Vorgaben zusammen, dass Labore und Chemikalienräume möglichst weit entfernt von der Alten Pinakothek sein mussten – sie befanden sich daher im linken hinteren Flügel an der Gabelsbergerstraße. Dies erklärt auch den ursprünglich großen Abstand zu den umliegenden Grundstücken. Da außerdem kein Gebäude die Pinakothek überragen sollte, wurde der Bau in die Länge und nicht in die Höhe gebaut. Quelle: Allgemeine Bauzeitung 37 (1872), Blatt 5.
Nordfassade mit Sgraffito-Dekoration, um 1900
Nordfassade mit Sgraffito-Dekoration, um 1900 Die Medaillons zwischen kleinen Fenstern und unter dem Hauptgesims der niedrigen Seitengebäude zeigen Porträtköpfe bedeutender Chemiker (an der südlichen Fassade) und angesehene Mechaniker, Maschinen- und Bauingenieure (an der nördlichen Fassade). Die Sgraffito-Wanddekorationen zeigen allegorische Darstellungen der mechanisch-, technisch- und naturwissenschaftlichen Abteilungen, die mit den jeweiligen Platzierungen der Fächer im Bau korrelieren. Quelle: Wolfgang A. Herrmann (Hg.): Bauten + Kunst. Technische Universität München 1868–2018, München 2018, S. 371.
Nordfassade Neureuther-Bau und Thiersch-Bau mit Turm, um 1917
Nordfassade Neureuther-Bau und Thiersch-Bau mit Turm, um 1917 Der Nordflügel wurde von 1910 bis 1916 durch einen L-förmigen, dreigeschossigen Gebäudekomplex des Münchner Architekten Friedrich von Thiersch erweitert. Gekrönt wird der Neubau durch das heutige Wahrzeichen der TUM: den Turm. Dieser erhebt sich über der Haupttreppe und sein Helm ist mit Kupfer verkleidet. Im Ersten Weltkrieg wurde er als militärischer Beobachtungsposten verwendet. Heute dient er als Veranstaltungsort für besondere akademische Veranstaltungen. Quelle: Wolfgang A. Herrmann (Hg.): Bauten + Kunst. Technische Universität München 1868–2018, München 2018, S. 74.
Südlicher Erweiterungsbau, Fassade, Teilansicht, 1930/1940
Südlicher Erweiterungsbau, Fassade, Teilansicht, 1930/1940 Der Münchner Architekt German Bestelmeyer schließt in seinem Entwurf für den Nord- und Südflügel (1923–1926) an die Höhe des Gesamtbaus, Sockelgeschoss, Fries und Gesims des Neureuther-Baus an. Die Obergeschosse sind gelb verputzt und sich einrollende Kartuschen zieren die Eingangsloggia des Südflügels. Das Sockelgeschoss mit Dekor und das herumführende ausladende Kranzgesims wurden aus Brannenburger Nagelfluh gestaltet. Quelle: Zentralinstitut für Kunstgeschichte Photothek/Archiv, ZI-0933-04-01-249697-1 Erstellt von: Staatliche Bildstelle Berlin
Ansicht Nordwesten aus der Arcisstraße, um 1930/1940
Ansicht Nordwesten aus der Arcisstraße, um 1930/1940 Um die Flügelbauten optisch miteinander in Verbindung zu setzen, ließ Bestelmeyer die überlebensgroßen Bronzestatuen der „Rossbändiger“ (1931) von Bernhard Bleeker und Hermann Hahn das Hauptportal flankierend aufstellen. Nach ihrer Aufstellung sorgten die Skulpturen aufgrund ihrer Nacktheit für einen Skandal bei den Münchner*innen und schafften es als Karikatur mit dem Titel „Das Münchner Streitobjekt“ in die Zeitschrift Simplicissimus. Quelle: Zentralinstitut für Kunstgeschichte Photothek/Archiv, ZI-0933-04-01-493887 Erstellt von: Staatliche Bildstelle Berlin
Außenansicht zerstörter Neureuther-Bau, um 1945
Außenansicht zerstörter Neureuther-Bau, um 1945 Im Zweiten Weltkrieg wurde der mittlere Teil des Gebäudes durch Luftangriffe schwer beschädigt. Obwohl ein großer Teil der Fassade noch erhalten war, wurde fast der gesamte Neureuther-Bau abgetragen und durch einen Neubau des Architekten Robert Vorhoelzer ersetzt. Quelle: Wolfgang A. Herrmann (Hg.): Bauten + Kunst. Technische Universität München 1868–2018, München 2018, S. 80.
Südlicher Innenhof, 1997
Südlicher Innenhof, 1997 Im Innenhof der TUM ist der Seitenflügel mit Fragmenten des Neureuther-Baus im Erdgeschoss zu sehen. Rechts (nach Norden) schließt das Treppenhaus an, das nach dem Zweiten Weltkrieg von Robert Vorhoelzer entworfen wurde. Quelle: Zentralinstitut für Kunstgeschichte Photothek/Archiv, ZI-0933-04-01-407496-1 Erstellt von: Hans Lehmbruch
Heutige Nordfassade, 1970
Heutige Nordfassade, 1970 An der Gabelsbergerstraße fügen sich seit dem Zweiten Weltkrieg drei Bauphasen des Stammgebäudes zusammen. Vom Neureuther-Bau ist lediglich die Erdgeschossrustika erhalten, die durch Robert Vorhoelzer um zwei Stockwerke ergänzt wurde. Daran grenzen durch einen Verbindungsteil verbunden der Turm und der Gebäudekomplex von Thiersch an, der den Zweiten Weltkrieg überstand. Quelle: Bayerische Staatsbibliothek München/Bildarchiv, kank-001028 Erstellt von: Joachim Kankel

Ort

Arcisstraße 21, 80333 München (Eingang Hauptgebäude) | Fassadenrest des Neureuther-Baus an der Gabelsbergerstraße frei zugänglich, sowie Thierschbau und Glockenturm, Bestelmeyer Flügel und der Vorhoelzer Neubau von außen sichtbar

Metadaten

Jara Lahme, “Das Stammgebäude der TUM,” MunichArtToGo, accessed 28. April 2024, https://municharttogo.zikg.eu/items/show/146.