Eingeordnet unter Ägyptologie

Die Sphingen am Nordfriedhof

Der Münchner „Alektryonsphinx“

Seit 2020 stehen am Eingang der Aussegnungshalle des Münchner Nordfriedhofes wieder zwei hahnenköpfige Sphingen. Sphingen als Wächter kennt man aus dem alten Ägypten, die Form mit Hahnenkopf ist jedoch ungewöhnlich und hat den beiden Statuen ein Weiterleben in der Literatur ermöglicht.

Bei den Statuen handelt es sich um originalgetreue Neuanfertigungen der beiden Sphingen, die von den 1890er bis in die 1960er Jahre am Eingang des Nordfriedhofes standen und dann auf ungeklärte Weise verschwanden. Diese Sphingen fanden als „apokalyptische Tiere“ Eingang in die Novelle „Tod in Venedig“ von Thomas Mann, der zwischen 1913 und 1933 in München lebte.

Gleich im ersten Kapitel der Novelle steht der Protagonist Gustav von Aschenbach den Sphingen am Nordfriedhof gegenüber, betrachtet die Aussegnungshalle und verliert sich in Träumereien:
„Ihre Stirnseite, mit griechischen Kreuzen und hieratischen Schildereien in lichten Farben geschmückt, weist überdies symmetrisch angeordnete Inschriften in Goldlettern auf, ausgewählte, das jenseitige Leben betreffende Schriftworte wie etwa ‚Sie gehen ein in die Wohnung Gottes‘ oder ‚Das ewige Licht leuchte ihnen‘; und der Wartende hatte während einiger Minuten eine ernste Zerstreuung darin gefunden, die Formeln abzulesen und sein geistiges Auge in ihrer durchscheinenden Mystik sich verlieren zu lassen, als er, aus seinen Träumereien zurückkehrend, im Portikus, oberhalb der beiden apokalyptischen Tiere, welche die Freitreppe bewachen, einen Mann bemerkte, dessen nicht ganz gewöhnliche Erscheinung seinen Gedanken eine völlig andere Richtung gab.“ (zit. nach Mann 1922, S. 11.)

Im Anschluss an diese Begegnung plant Gustav von Aschenbach in einer ersten Todesahnung seine Reise von München nach Venedig.
Die echten Sphingen des Nordfriedhofs gerieten auch nach ihrem mysteriösen Verschwinden wegen ihrer Erwähnung in Thomas Manns Novelle nicht in Vergessenheit, sondern wurden durch das Thomas-Mann-Forum wieder in den Blickpunkt gerückt. Dank der Recherchen des Literaturwissenschaftlers und Vorsitzenden des Thomas-Mann-Forums Dirk Heißerer konnten die beiden Sphingen rekonstruiert werden. Darüber hinaus stieß er auf Dokumente, die das Rätsel um die beiden Sphingen lüften.

Das Projekt der Neuanfertigung der beiden Sphingen fand unter Anleitung des Steinmetzteams um Barbara Oppenrieder und Wolfgang Gottschalk sowie Schülern der Steinmetzschulen statt. Aus einem wuchtigen 2,3 Tonnen schweren Block aus Kehlheimer Kalkstein erschufen sie den gewaltigen 1,92 Meter langen, 62 Zentimeter breiten und 1,7 Meter hohen Sphinx. Dank alter Fotografien in Archiven ließ sich das Aussehen – über Thomas Manns Benennung als „apokalyptische Tiere“ hinaus – rekonstruieren. Der Sphinx zeigt sich – heute wie damals – mit Löwenkörper und Hahnenkopf, in den Pranken eine Stele haltend und auf dem Kamm eine runde Scheibe tragend. Die Darstellung dieser modernen Sphingen gibt Anlass zu einem kleinen Exkurs ins Alte Ägypten.

In der Scheibe der Münchner Sphingen lässt sich eine Anspielung auf die altägyptische Sonnenscheibe erkennen, die bei zahlreichen Göttern den Kopf schmückt. Ein Hahnenkopf ist für altägyptische Sphingen jedoch nicht belegt. Sie haben entweder einen menschlichen Kopf (Sphinx), einen Widderkopf (Kriosphinx) oder – seltener – einen Falkenkopf (Hierakosphinx). Entsprechend verkörpern sie den König, den Gott Amun und den Falkengott Horus oder Month.

Der ägyptische Sphinx zeigt ein Mischwesen aus liegendem Löwenkörper und männlichem Kopf. In ihm wird das Doppelwesen des Königs, der Mensch und Gott zugleich ist, sichtbar. Als König erkennbar ist der Sphinx an der Darstellung des königlichen Nemes (Königskopftuch).
In ihren Formaten decken die altägyptischen Sphingen ein breites Spektrum ab. Der riesige Sphinx von Gizeh am Fuße des Aufwegs zur Pyramide des Chephren ist nicht nur der größte, sondern auch der früheste Beleg für einen Sphinx. Am anderen Ende des Größenspektrums stehen kleine Statuetten von Sphingen, wie sie auch im Münchner Ägyptischen Museum zu sehen sind.

Die außergewöhnliche Darstellung der Sphingen am Nordfriedhof in ihrer strengen Zweiteilung in liegenden Löwenkörper mit ausgestreckten Vorderläufen nach ägyptischem Muster und gänzlich unägyptischen Hahnenkopf lässt sich am ehesten mit den falkenköpfigen Sphingen, den „Hierakosphingen“ in Verbindung bringen. Dieser Sphinxtypus ist jedoch nur sehr selten belegt. Als großformatige Skulpturen stehen Falkensphingen paarweise vor dem Tempel Ramses‘ II. in Wadi es Sebua in Nubien, und zwei Falkensphingen fand Belzoni im Großen Tempel von Abu Simbel (heute im British Museum). Ob es diese mehrfach abgebildeten ramessidischen Statuen gewesen sind, die den Bildhauer inspirierten, der die Münchener Hahnensphingen schuf? Da sie die einzigen ihrer Art sind, wäre es übertrieben, für sie der ägyptologischen Terminologie den „Alektryonsphinx“ hinzuzufügen.

Aber sie sollen doch ehrfurchtsvoll in den Kreis der Sphingen aufgenommen werden, und wir wollen ihre Rückkehr nach München freudig begrüßen.

Bilder

Aussegnungshalle mit Sphingen, 1889/1932
Aussegnungshalle mit Sphingen, 1889/1932 Die übliche Darstellung eines Sphingen im alten Ägypten war die eines Löwenkörpers mit menschlichem Kopf, es gab aber auch Falken- oder Widderköpfe. Quelle:

Zentralinstitut für Kunstgeschichte, Photothek/Archiv, Th158082 |© Bildarchiv Foto Marburg

Historische Ansicht einer der beiden Sphingen des Nordriedhofs, um 1905
Historische Ansicht einer der beiden Sphingen des Nordriedhofs, um 1905 Die beiden Sphingen am Eingang des Friedhofes verschwanden in den 1960er Jahren auf ungeklärte Weise und wurden erst 2020 neu geschaffen. Quelle: Stadtarchiv München, FS-HB-VIII-0421
Sphingen am Münchner Nordfriedhof, 2020
Sphingen am Münchner Nordfriedhof, 2020 Der hahnenköpfige Sphinx trägt zwischen seinen Vorderpranken eine Stele mit der Inschrift „WACHET UND BETET“. Erstellt von: Marianne Franke
Sphingen am Münchner Nordfriedhof, 2020
Sphingen am Münchner Nordfriedhof, 2020 Im alten Ägypten bildeten lange Sphingen-Alleen die Begrenzung von Prozessionsstraßen zu den Tempeln. Erstellt von: Marianne Franke

Ort

Ungererstraße 130, 80805 München | öffentlich zugänglich

Metadaten

Jan Dahms, “Die Sphingen am Nordfriedhof,” MunichArtToGo, zuletzt zugegriffen am 21. November 2024, https://municharttogo.zikg.eu/items/show/112.