Der „Schreitende“ an der Friedenheimer Brücke
Ein Einheitsdenkmal von Michael Morgner

Die Figur aus dem Jahr 2016 zeigt einen Menschen, der mit hoch erhobenen, verschränkten Händen einen großen, entschlossenen Schritt macht. Die Skulptur „Schreitender“ stammt von dem Chemnitzer Künstler Michael Morgner (geboren 1942) und gehört zu seinem zentralen Formenvokabular, mit dem er verschiedene Daseins- und Erlebnisstufen des Menschen thematisiert.
Die Stahlfigur steht am Ende einer Stahlplatte, die im Negativ die freien Flächen der stehenden Figur zeigt. So existiert die Figur zweimal – einmal liegend und einmal stehend. Die Idee des „Schreitenden“ entstand bereits 1978 aus einer Zeichnung, in einer Zeit, in der Morgner nach einem Skiunfall und sieben Operationen selbst nicht aufrecht gehen konnte. Die erste Umsetzung als Stahlskulptur erfolgte im Jahr 2000 für den Theaterplatz in Chemnitz. Weitere Ausführungen befinden sich in Oberstdorf im Allgäu, im Ostseebad Ahrenshoop und in Reinsdorf bei Zwickau. Diese sind im Sinne des Künstlers als Einheitsdenkmal gedacht, das sich aus allen Himmelsrichtungen aufeinander zubewegt.
Das Motiv des „Schreitenden“ taucht auch in zahlreichen Malereien und Grafiken Morgners auf. Die Figur symbolisiert Themen wie (Wieder-)Aufstehen, Widerstand und Freiheit prägen die Figur. Diese Motive spiegeln auch Morgners Erfahrungen in der DDR wider.
Kunst wurde dort als politisches Instrument genutzt, um marxistisch-leninistische Werte und damit die staatliche Ideologie zu vermitteln. Der Sozialistische Realismus galt als verbindliche künstlerische Leitlinie: Kunstwerke sollten verständlich, lebensnah und optimistisch gestaltet sein und die Ziele des Staates unterstützen. Zwar war eine individuelle künstlerische Handschrift grundsätzlich erlaubt, doch musste das sozialistische Menschenbild stets positiv dargestellt werden.
Davon abweichende, insbesondere experimentelle oder abstrakte Kunst galt als „formalistisch“ – also weltfremd, dekadent oder elitär –, da sie nicht der propagierten Aufgabe der Kunst entsprach. Auch der staatlich regulierte Kunstbetrieb folgte diesen Prinzipien. So entschied der Verband Bildender Künstler der DDR darüber, wer im In- oder Ausland ausstellen durfte. Wer sich den offiziellen Vorgaben widersetzte, konnte seine Werke nur schwer zeigen und wurde häufig gesellschaftlich isoliert, vom Ministerium für Staatssicherheit überwacht und teilweise sogar strafrechtlich verfolgt.
Diese Erfahrung machte auch Morgner, als er 1977 gemeinsam mit Carlfriedrich Claus, Thomas Ranft, Dagmar Ranft-Schinke und Gregor-Torsten Schade (später Kozik) in Chemnitz die Produzentengalerie CLARA MOSCH gründete. Die Gruppe wurde 1982 durch sogenannte „Zersetzungsmaßnahmen“ des Ministeriums für Staatssicherheit zerschlagen. Dabei handelte es sich nicht um offene Verhaftungen, sondern um gezielte psychologische Zermürbung. Typische Maßnahmen waren das Verbreiten von Gerüchten, das Manipulieren von Beziehungen, anonyme Drohungen, Eingriffe in die berufliche Laufbahn oder das heimliche Verfälschen von Post und Dokumenten. Ziel war es, das Vertrauen der Betroffenen in sich selbst und in ihr Umfeld zu zerstören und sie gesellschaftlich zu isolieren.
Trotz dieser Erfahrungen blieb Morgner künstlerisch aktiv. 1986 organisierte das Ministerium für Bundesangelegenheiten Nordrhein-Westfalen gemeinsam mit dem staatlichen Kunsthandel der DDR die Ausstellung „Menschenbilder – Kunst aus der DDR“. Man wünschte sich seine Beteiligung. Die Ausstellung war erfolgreich und zeigte erstmals offiziell Kunst aus der DDR in der Bundesrepublik, doch Morgner erhielt keine Reisegenehmigung.
In der Figur des „Schreitenden“ verdichtet sich diese biografische und künstlerische Erfahrung: das Aufstehen, Weitergehen und Behaupten des eigenen Weges trotz Widerständen. In München erinnert die Figur zugleich an das Ende der DDR.
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