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Der Nornenbrunnen

Urd, Verdandi und Skuld – drei germanische Schicksalsfrauen für den Stachus

Bier galt in München immer schon als kulturstiftend – und so ist diesem gewissermaßen auch der Brunnen in der Eschenanlage am Maximiliansplatz zu verdanken – wenngleich er ursprünglich an einer anderen, wesentlich prominenteren Stelle, nämlich dem Stachus, stand.

Als „eine der glücklichsten Schöpfungen der Bildnerei aller Zeiten“ bezeichnete Julius Baum den 1907 von Hubert Netzer (1865–1939) entworfenen Brunnen (Die Stuttgarter Kunst der Gegenwart, Stuttgart 1913, S. 216). Der Brunnen zeigt die drei Nornen – die germanischen Schicksalsfrauen Urd, Verdandi und Skuld –, die an einer großen Wasserschale lehnen. Sie stehen für das Gewordene, das Werdende und das Seinsollende, für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie sind die Hüterinnen der Quelle, die am Fuße der Weltenesche Yggdrasil entspringt, und lenken das Schicksal der Menschen – äquivalent zu den römischen Parzen und den griechischen Moiren. Bekannt ist das Motiv der Nornen auch etwa aus dem Vorspiel von Richard Wagners „Götterdämmerung“, wo sie das Schicksalsseil spinnen.

Bereits 1903 hat sich Netzer, der an der Münchner Kunstakademie studiert hatte und vom Neoklassizismus der Bildhauerschule um Adolf von Hildebrand geprägt war, am Wettbewerb für einen Monumentalbrunnen auf dem St. Magnusplatz in Kempten mit einem Modell beteiligt. Anstelle der eigentlich in der Ausschreibung geforderten Darstellung des Heiligen Magnus hatte er ein Modell mit den drei Nornen eingereicht, das nichtsdestotrotz mit einem dritten Preis prämiert wurde.

1907 griff er das Thema schließlich erneut für einen Wettbewerb auf, dieses Mal für einen Brunnen am Isartor. Sein mit einem zweiten Preis ausgezeichneter Entwurf wurde daraufhin für 40.000 Mark am Stachus realisiert, finanziert von der 1901 gegründeten Mathias-Pschorr-Hackerbräu-Stiftung.

Vor diesem Brunnen hatte Netzer in München bereits zwei weitere realisiert: 1893 den im Zweiten Weltkrieg zerstörten „Tritonenbrunnen“ in der Herzog-Wilhelm-Straße und 1896 den „Narzissbrunnen“ im Garten des Bayerischen Nationalmuseums. Darüber hinaus schuf er 1911 den ebenfalls im Krieg zerstörten „Jonasbrunnen“ am Josephsplatz, bevor er im selben Jahr München verließ, da er an die Kunstgewerbeschule Düsseldorf berufen worden war.

Bis zu 15 Steinmetze waren an der Ausführung des Prachtbrunnens aus Kirchheimer Muschelkalk beteiligt. Der Brunnen weist eine dreieckige Grundform auf. An einer großen Schale auf einem hohen Sockel lehnen die drei Nornen, „hoheitsvolle Gestalten, ihrer architektonischen Aufgabe entsprechend durchaus geschlossen pfeilermäßig in der Form und doch von tiefem Leben erfüllt“ (Julius Baum [Hg.], Die Stuttgarter Kunst der Gegenwart, Stuttgart 1913, S. 216). Zwischen den Figuren ergießt sich das Wasser aus drei Mäulern an der großen Schale in drei flache, runde Becken. Im Gegensatz zum Kemptener Brunnenmodell sind der Sockel und die Wasserbassins nicht sechsseitig, sondern rund ausgebildet. Auch die Kartuschen mit den Namen der drei Nornen wurden bei der Münchner Ausführung weggelassen.

Am 4. September 1907 wurde der Nornenbrunnen am Stachus gegenüber des etwa zehn Jahre zuvor fertiggestellten Justizpalastes enthüllt. Wo heute einer der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte in München ist, befand sich um 1900 eine großzügige Grünanlage, deren südlichen Abschluss der Brunnen bildete.

1964 musste der Brunnen den umfangreichen Baumaßnahmen am Stachus weichen. Anfang 1966 wurde dieses „Denkmal romantischer Sehnsucht, nordischen Schicksalsglaubens, beindruckenden Jugendstils“ (Bistritzki 1980, S. 60) rund 500 Meter weiter an seinem heutigen Standort in den Eschenanlagen am Maximiliansplatz, nahe der Industrie- und Handelskammer, wiederaufgebaut. 1999, mehr als 90 Jahre nach der Entstehung des Brunnens, übernahm die Bayerische Immobilien AG, die auf Pschorr- und Hacker-Bräu zurückgeht, die Kosten für seine Instandsetzung – womit sich der Kreis zum Bier gewissermaßen schließt.

Bilder

Nornenbrunnen von Hubert Netzer am Stachus
Nornenbrunnen von Hubert Netzer am Stachus Der Brunnen mit den drei Schicksalsfrauen stand ursprünglich am Stachus (Karlsplatz)... Quelle: Zentralinstitut für Kunstgeschichte, Photothek, ZI-0960-04-00-414173
Stachus mit Nornenbrunnen, um 1910
Stachus mit Nornenbrunnen, um 1910 ... und bildete den Abschluss einer Grünanlage. Quelle: Zentralinstitut für Kunstgeschichte, Photothek, ZI-0954-03-00-438808 Erstellt von: Wilhelm Hoffmann
Justizpalast, um 1910
Justizpalast, um 1910 Der Nornenbrunnen stand zwischen Rondell und Justizpalast. Quelle: Stadtarchiv München, FS-PK-STB-05168
Modell für einen Nornenbrunnen in Kempten, 1903
Modell für einen Nornenbrunnen in Kempten, 1903 Bereits 1903 hatte Hubert Netzer sich mit dem Modell eines Nornenbrunnens an einem Wettbewerb um einen Monumentalbrunnen in Kempten beteiligt, damit jedoch nur den 3. Preis erzielt. Datum: Kunst und Handwerk 53 (1902/03), Heft 2, S. 38.
Modell des Münchner Nornenbrunnens, um 1904
Modell des Münchner Nornenbrunnens, um 1904 Das Modell für den Münchner Nornenbrunnen im Maßstab 1:100 unterschied sich im Detail von jenem für den Brunnen in Kempten: Sockel und Wasserbassins, die vorher sechsseitig konzipiert waren, sind nun abgerundet und deutlich niedriger. Quelle: Kunst und Handwerk 54 (1903/04), Heft 4, S. [103], Abb. 202.
Statuen der Verdandi und Urd im Atelier, um 1907
Statuen der Verdandi und Urd im Atelier, um 1907 Hinter den zwei überlebensgroßen Nornenfiguren in Netzers Atelier ist das Modell des Brunnens zu sehen. Quelle: Jugend. Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben 12 (1907), Nr. 37, S. 852.
Der Nornenbrunnen am Stachus kurz vor der Fertigstellung, 1907
Der Nornenbrunnen am Stachus kurz vor der Fertigstellung, 1907 Bis zu 15 Steinmetze waren an der Ausführung des Brunnens beteiligt, der am 4. September 1907 bei strömendem Regen enthüllt wurde. Quelle: Stadtarchiv München, FS-AB-STB-069-13 Erstellt von: Rehse & Co.
Figuren des Nornenbrunnens
Figuren des Nornenbrunnens Durch ihre jeweilige Kopfhaltung versinnbildlichen die drei Nornen Vergangenheit (Urd), Gegenwart (Verdandi) und Zukunft (Skuld). Quelle: Die Rheinlande 31 (1921), Heft 3, S. 106.
Kolumbarium auf der Ausstellung „München 1908“
Kolumbarium auf der Ausstellung „München 1908“ Auf der Ausstellung „München 1908“ präsentierten Architekt German Bestelmeyer und Bildhauer Georg Albertshofer einen Musterfriedhof mit einem Kolumbarium, dessen zwei Figuren am Eingang Abgüsse von Hubert Netzers Nornenbrunnen waren. Quelle: Kunst und Handwerk 59 (1908/09), Heft 2, S. 39.
Der Nornenbrunnen Richtung Westen, undatiert
Der Nornenbrunnen Richtung Westen, undatiert Eine Straße trennte die Grünanlage, in der der Nornenbrunnen stand, vom schräg dahinterliegenden Hotel Königshof… Quelle: Zentralinstitut für Kunstgeschichte, Photothek/Archiv, 325856 / © Bildarchiv Foto Marburg Erstellt von: Carl Teufel
Retuschen auf einer Aufnahme des Nornenbrunnens
Retuschen auf einer Aufnahme des Nornenbrunnens …allerdings schien dieser Anblick nicht zu gefallen, sodass man eine ähnliche Ansicht – wie auf dieser Fotografie aus dem heute im ZI befindlichen Bruckmann Archiv zu sehen ist – retuschiert und eine Hecke in den Hintergrund eingefügt hat… Quelle: Zentralinstitut für Kunstgeschichte, Photothek/Archiv, Bildarchiv Bruckmann, ZI-BAB-28-Arch-252a
Retuschierte Aufnahme des Nornenbrunnens mit "Hecke", 1907
Retuschierte Aufnahme des Nornenbrunnens mit "Hecke", 1907 … das Ergebnis der Retuschen war unter anderem in der Zeitschrift „Die Kunst für Alle“ abgebildet. Quelle: Die Kunst für Alle 23 (1907/08), Heft 2, S. 48.
Blick auf den Nornenbrunnen von Süden, um 1900
Blick auf den Nornenbrunnen von Süden, um 1900 Bis 1964 bildete der Brunnen den südlichen Abschluss der Grünanlage am Stachus. Quelle: Zentralinstitut für Kunstgeschichte, Photothek/Archiv, 325852 / © Bildarchiv Foto Marburg Erstellt von: Carl Teufel
Der Nornenbrunnen an seinem heutigen Standort
Der Nornenbrunnen an seinem heutigen Standort ... dann musste er den Umbaumaßnahmen am Stachus weichen und wurde 1966 an seinen heutigen Standort in den Eschenanlagen am Maximiliansplatz versetzt. Erstellt von: Krista Profanter, 2022
Inschriften am Brunnen
Inschriften am Brunnen Leicht zu übersehen sind die Inschriften am Brunnen: „Errichtet aus der Matthias-Pschorr-Stiftung Hackerbräu 1907“ und „Hubert Netzer 1907“. Erstellt von: Krista Profanter, 2022

Ort

Maximiliansplatz, 80333 München

Metadaten

Krista Profanter, “Der Nornenbrunnen,” MunichArtToGo, zuletzt zugegriffen am 21. November 2024, https://municharttogo.zikg.eu/items/show/24.