Die Ainmillerstraße 22
Chicago in München? Amerikanischer Wolkenkratzer trifft Münchner Jugendstil
Das Mietshaus in der Ainmillerstraße 22 ist ein Vorzeigebau des Münchner Jugendstils. So modern dieser Bau um 1900 mit seinem reichen Dekor und der farbenfrohen Gestalt einerseits erscheint, lässt sich doch auch eine architektonische Tradition wiederfinden. Überraschenderweise weist die Fassade mitten in Schwabing auch Ähnlichkeiten zur Hochhausarchitektur Chicagos auf.
1898–1900 hat Felix Schmidt die Fassade des viergeschossigen Wohnhauses nach dem Entwurf von Henry Helbig und Ernst Haiger errichtet. Sie ist senkrecht in fünf Achsen gegliedert, die durch kannelierte Wandpfeiler gerahmt werden. Dazwischen liegen Fensterarkaden, die leicht zurückgestuft sind. Etwas grimmig dreinschauende und Assoziationen zu altägyptischen Darstellungen weckende Maskenreliefs bekrönen die Scheitel der Bögen. Ein florales Ornament aus Blättern und Blüten umläuft die Arkatur. Das an Sonnenblumen erinnernde Dekor findet sich auch zwischen den Fenstern wieder, wobei es aussieht, als würde der Stängel über die Wandöffnungen hinweg nach oben wachsen und die Blumen tatsächlich unterhalb des Bogenfensters blühen. Die gold-grüne Farbgebung unterstreicht diese Wirkung. 1982 wurde die Fassade nach originaler Farbgestaltung restauriert. Im Zwerchgiebel werden das Pilaster-Motiv und Pflanzenornament im asymmetrischen Bogen nochmals als opulente Rahmung des Fensters aufgegriffen. Das Ladenlokal im Sockelgeschoss, in dem sich aktuell ein Optikgeschäft befindet, ist nicht bauzeitlich. Doch das biblische Sündenfall-Relief über dem Hauseingang ist beim Umbau erhalten worden.
Die tektonische Gliederung der Fassade allein ist noch keine Innovation. Tatsächlich wird an dieser Fassade eher ein konservativer Zugang zu den neuen Jugendstilformen in München deutlich. Denn diese werden innerhalb der historisierenden Struktur eingepasst und schlängeln sich nicht frei auf der Fassadenfläche herum, wie es etwa aus der verwandten Strömung des Art Nouveau in Frankreich oder Belgien bekannt ist.
Moderne Tendenzen finden sich trotz allem auch in der Tektonik. Hier wagten die Entwerfer, vermutlich der aus den USA stammende Henry Helbig, den Blick über den Atlantik. So ist hier nicht bloß die europäische Bauhistorie, etwa italienische Renaissancepalazzi, in der Arkatur erkennbar, sondern auch die neuste Hochhausarchitektur aus Chicago. Die Stadt am Michigansee war im späten 19. Jahrhundert die Geburtsstätte der Hochhausarchitektur. Nach dem großen Brand 1871, der viele Holzbauten in der Stadt zerstört hatte, setzte sich dort die Stahlskelettbauweise durch und ermöglichte das Bauen in die Höhe. Eine ganze Stilrichtung, die sogenannte Chicagoer Schule, entwickelte sich hieraus. Die Entwerfer der Chicagoer Schule schöpften wiederum aus Gestaltungsformen der mitteleuropäischen Renaissance oder des Klassizismus. Sie fügten diese aber in neuen Höhendimensionen ein und setzten sie mithilfe moderner Materialien und Technik innovativ um.
Das 1887–1889 von Louis Henri Sullivan und Dankmar Adler errichtete Auditorium Building war einer der ersten Wolkenkratzer in den USA und bauzeitlich das komplexeste Gebäude im ganzen Land. Augenmerk der Fassade dieses historisch relevanten Baus sind ebenfalls die gliedernden Arkaden, die allerdings in vielen Neubauten der späten 1880er und frühen 1890er in Chicago auftauchen. Weiteres Beispiel ist etwa das Fine Arts Building (früher: Studebaker Building) in der Nachbarschaft. Es wurde 1885 von Solon Spencer Beman gebaut. Wie in der Ainmillerstraße 22 dominieren hier fünf Arkaden, wobei die beiden äußeren schmaler und niedriger sind – ganz wie in München.