Das Mietshaus Römerstraße 11
Ist das noch Jugendstil oder schon Neoklassizismus?
Der Münchner Jugendstil hat viele Gesichter – eines davon ist inspiriert durch tradierte Formen oder Ornamente, die ihren künstlerischen Ursprung außerhalb Europas haben. Die Fassade in der Römerstraße 11 vereint architektonische Elemente aus geografischer und historischer Ferne: dem alten Ägypten, dem römischen Imperium, der griechischen Antike – alles findet hier in einer modernen Zusammensetzung seinen Platz.
Der vierstöckige Bau mit Mansardendach wurde 1899 fertiggestellt. Das Architektenduo Henry Helbig und Ernst Haiger hat die Fassade in fünf Achsen gegliedert, die drei mittleren werden von einem mehrfach gestuften Korbbogengiebel überfangen. Bereits im Sockelgeschoss begegnet man Referenzen auf altägyptische Kunst. Den Eingang bekrönt ein rundes Relief, das an eine Pharaonenmaske erinnert. Rechts daneben befindet sich ein Motiv, das auch häufig in der ägyptischen Wandmalerei auftauchte: die goldgefärbte Profilansicht eines Mannes mit Palmwedel.
Außen und in der Mitte ziehen kannelierte Pilaster den Sockel optisch nach oben. Sie haben keine Plinthe und reichen bis zum vierten Geschoss. Hier wird das antike Vorbild der Säulenordnung im Kapitell weitergedacht: Die Ornamentik ist angelehnt an einen Eierstab – eine Zierleiste, die in der Regel fortlaufend eine Eiform und ein pfeilspitzenartiges Element kombiniert. Sie wird flankiert von einem stilisierten Akanthusblatt. Eierstab und Akanthusblatt tauchen bereits an Gebäuden der griechischen und römischen Antike auf, werden hier aber etwas verfremdet. Eine ebenfalls innovative Ergänzung stellt das verhältnismäßig kurze griechische Mäanderornament unmittelbar darüber dar, das in der Architekturgeschichte eher als umlaufende Verzierung an griechischen Tempelfronten bekannt ist.
In den beiden anderen Achsen reichen Doppelpilaster bis zum Sockelgeschoss. Sie werden voneinander jeweils durch Reliefmasken getrennt, die sowohl in der Gestalt als auch in der gold-blauen Farbigkeit erneut Bezüge zur Kunst des alten Ägyptens aufweisen. An den goldenen Voluten der Maske, aber auch den radialen Formen wird der für das Jugendstil-Ornament typische Schwung offenbar. Die für den Münchner Jugendstil sonst charakteristische Flächigkeit und Dynamik ist mit Ausnahme dieses Details an der restlichen Fassade kaum sichtbar.
Die wohl eindeutigste Referenz auf antike Formensprachen sind allerdings die vier Reliefs in der Mitte, die mythologische Szenen zeigen. Das obere Relief könnte das Urteil des Paris darstellen. Die Erzählung handelt davon, wie Paris die schönste der Göttinnen Aphrodite, Athene und Hera küren muss. Erst bei genauerer Betrachtung wird ersichtlich, dass jeweils zweimal das gleiche Motiv dargestellt ist und durch die Mittelachse gespiegelt wird. Dies betont die Symmetrie der Fassade, die nur im Sockel durch die Position des Eingangs gebrochen wird. Vermutlich wurden diese Reliefs im Zuge einer Restaurierung nach originalem Vorbild wieder hergestellt.
Als moderne Elemente hingegen gelten die goldenen Kreise, die geordnet auf der freien Wandfläche eingesetzt sind und so in dezenter Weise zum harmonischen Gesamtbild beitragen. Der zweifach abgestufte Giebel ist ein weiterer Hingucker der Römerstraße 11. Der Korbbogen – so bezeichnet man einen gedrückten Rundbogen – wird um 1900 vermehrt verwendet. An dieser Fassade bildet die Form sowohl den Abschluss des Giebels als auch den Blendbogen im Giebelfeld, der zwei Fenster mit der gleichen Form überfängt. Dazwischen wachsen strahlenförmig stilisierte Blumen bis zum Bogenrand.
In München erlebte der Klassizismus zeitgleich zur Entwicklung des Jugendstils ein Comeback. Auf der VI. Internationalen Kunstausstellung 1897 wurde der Jugendstil erstmals in einem kleinen Raum präsentiert. Ein Jahr später wurde vonseiten konservativer Künstler ein neoklassizistisches Zimmer auf der Münchner Jahresausstellung gezeigt, das auch der Architekt Henry Helbig mitgestaltete. Dem Amerikaner waren architektonische Referenzen auf antikisierende Formen also nicht fremd. Sie wurden in der Folge an vielen Bauten verschiedenster Architekten in München um 1900 mit Jugendstil-Ornamenten verflochten. Helbig war aufgrund seiner Herkunft darüber hinaus bestens mit der Hochhausarchitektur Chicagos vertraut, die er auch in der Schwabinger Nachbarschaft in den Entwurf der Aimillerstraße 22 einfließen ließ. Chicago könnte auch der Grund sein, weshalb sich an seinen Bauten in der Ainmillerstraße 22 und der Römerstraße 11 Zitate altägyptischer Kunst finden lassen. Auf der Weltausstellung World’s Columbian Exposition 1893 in Chicago gab es unter anderem die sogenannte Cairo Street, in der Kunst und Kultur aus Ägypten in einer Reihe von Architekturen nach ägyptischem Vorbild gezeigt wurde. Diese sicherlich aufsehenerregende, wenn auch aus heutiger Sicht, kritisch einzuordnende Präsentation, könnte Helbig nachhaltig beeinflusst haben. Zudem interessierten sich die Künstler:innen um die Jahrhundertwende besonders für die Ferne und außereuropäische Kunsttraditionen.